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Der zeitlose Winter

Der zeitlose Winter

Titel: Der zeitlose Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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meisten Menschen hätte ein Beruf, bei dem sich das Reiseziel von Auftrag zu Auftrag änderte, mitunter sogar während einer einzigen Reise, auf Fernweh schließen lassen. Auch wenn sie es ungern zugeben, befinden sich die meisten Vertreter der menschlichen Spezies unablässig auf Wanderschaft. Ein jeder versucht vergeblich, seinen Platz auf der Welt zu finden.
    Dieses Problem hatte Fischmehl nicht. Er wusste immer, wo er war.
    Ursprünglich kam Fischmehl aus Afghanistan, was viele zu der Schlussfolgerung verleitete, er sei Moslem. Das musste jedoch nicht unbedingt der Fall sein. Die Nuristanis – der Klan, dem Fischmehls Vater angehörte –, waren die Nachkommen einer großen ethnischen Gruppe, den Kafiren, die 1895 gewaltsam zum Islam bekehrt worden waren. Damals wurde ihre Region von Kafiristan – Land der Ungläubigen - in Nuristan – Land des Lichts – umbenannt. Eine Veränderung, die kaum mehr bedeutete, als würde man das Etikett auf einer Konservendose mit Bohnen durch eines von einer Dose Pfirsiche ersetzen, und auch ebenso viel bewirkte: Das Etikett mochte eine verlockende Fülle goldener Früchte zeigen, in der Dose aber befanden sich noch immer Bohnen.
    So kam es, dass Fischmehls Eltern, die in Europa zur Schule gegangen waren, den muslimischen Glauben nie angenommen hatten. Stattdessen machten sie es sich zur Aufgabe, ihren Söhnen die verschiedensten religiösen Einflüsse zu vermitteln. Das wäre für beinahe jeden, der im Zeitalter der Moderne lebte, eine aufgeschlossene Herangehensweise gewesen. Der größte Teil Afghanistans steckte jedoch immer noch im sechzehnten Jahrhundert. So wirkte sich diese moderne Haltung nicht eben positiv auf ihre Stellung und ihren gesellschaftlichen Status aus.
    Es nützte nur wenig, dass Fischmehls Eltern Wissenschaftler waren – sein Vater Astronom und seine Mutter Archäologin. Für einen Afghanen waren das schon im Alltag nichtssagende Bezeichnungen; in Kriegszeiten dagegen waren sie mehr als nutzlos.
    Da die meisten Afghanen außerhalb der Städte lebten, entsprach ihre Lebensweise der einer bäuerlichen Stammesgesellschaft. Diese Lebensweise war es, der sich Fischmehls Vater anschloss. Für ihn stellte sie nicht nur die Rückkehr zum rein nomadischen Leben ihrer Vorväter dar, sondern auch ein gutes Mittel, sich so weit wie möglich von den großen politischen Unruhen zu entfernen, die er kommen sah. Was die Unruhen betraf, behielt er Recht, doch irrte er sich in dem Glauben, dass Entfernung sie vor den Konflikten ihrer Landsleute schützen würde. Wenn man Afghane war, befand man sich im Kriegszustand. Dabei spielte es keine Rolle, dass es häufig andere Afghanen waren, gegen die man kämpfte.
    Soweit Fischmehl zurückdenken konnte, hatte der Afghanische Bürgerkrieg alle Bereiche des Alltags beherrscht. Verwandtschaftliche Beziehungen bildeten die Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens und bestimmten den patriarchalischen Charakter der Gemeinschaft. Religion spielte eine ebenso wichtige Rolle, leider weniger als einende moralische und ethische Kraft, sondern vielmehr als eine passende Rechtfertigung für politische Feldzüge. Die meisten dieser Feldzüge wurden von den islamistischen Guerillas geführt – den Mudschaheddin. Die eigentliche Auseinandersetzung - der Russisch-Afghanische-Krieg – war seit vielen Jahren vorbei, hatte jedoch einen eskalierenden tödlichen Schlagabtausch zur Folge. Kleine Splittergruppen stritten sich um Herrschaftspositionen, einem Schlag folgte ein Gegenschlag, der Vergeltung eine Gegenvergeltung. Erschwerend kam hinzu, dass die meisten Afghanen die Gruppen nur schwer auseinanderhalten konnten. Es gab keine Möglichkeit, eine wohlmeinende Mudschaheddin-Truppe von einer umherziehenden Bande von Straßenschlägern zu unterscheiden.
    Seither waren viele Jahre vergangen, und noch immer lebten Millionen von Afghanen als Flüchtlinge in anderen Ländern; Millionen waren gestorben, und weitere Millionen fürchteten täglich um ihr Leben. Die meisten Mudschaheddin waren inzwischen zu der Einsicht gelangt, dass sie lediglich um des Kampfes willen kämpften, und dass abgesehen von dem kargen Land, das sie von Anfang an besessen hatten, ohnehin nichts mehr zu retten war. Die Wirtschaft war am Boden, die Städte lagen in Trümmern, und die schwache Übergangsregierung befand sich auf dem Weg zu einer extremen Islamisierung. Sie verboten den Verkauf von Alkohol und zwangen die Frauen, in der Öffentlichkeit ihren Kopf zu bedecken

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