Der Zeitspieler
du?«
»Morton Cargill.«
»Und woher bist du?«
Cargill sagte es ihr. Er beobachtete, wie ihre so ausdrucksvollen Augen wieder die Farbe wechselten. Schließlich nickte sie. »Also einer von denen!« Sie wirkte beunruhigt. »Wir bekommen eine Belohnung, wenn wir Leute wie dich melden.« Nachdenklich betrachtete sie ihn. »Was hast du denn getan – ich meine dort, von woher du kommst –, daß die Schatten hinter dir her sind?«
Cargill zuckte die Schultern. »Nichts.« Er hatte nicht die Absicht, ihr von Marie Chanette und dem Unfall zu erzählen.
Ihre Augen blitzten zornig auf. »Wage es nicht, mich anzulügen!« sagte sie drohend. »Ich brauche Pa nur zu erzählen, woher du kommst und daß du auf der Flucht bist, dann ist es aus mit dir.«
»Ich weiß wirklich nicht, was die Schatten gegen mich haben«, versicherte er ihr und machte ein so ehrliches Gesicht wie er nur konnte. »Sagen Sie mir, welches Jahr haben wir hier eigentlich?«
Atemlos wartete er auf die Antwort.
5.
Bisher hatte er überhaupt noch nicht einmal daran gedacht gehabt. Er war anderweitig viel zu beschäftigt gewesen. Die Wanduhr in der Wohnung mit der trennenden Glasscheibe hatte den 6. Mai, nicht aber das Jahr angezeigt. Alles war so furchtbar schnell gegangen, selbst seine aufgeregten Fragen an Ann Reece, nachdem sie ihn aufweckte, waren so von einem Gefühlschaos überlagert gewesen, daß die Möglichkeit, sich tatsächlich in der Zukunft zu befinden, überhaupt nicht wirklich von seinem Bewußtsein in Betracht gezogen worden war.
Wie weit in der Zukunft befand er sich hier? In welchem Jahr? Was war in den Jahrhunderten vergangen, die seit seiner eigenen Zeit verstrichen waren? All das schoß ihm plötzlich schwindelerregend durch den Kopf. Er durfte sich von all diesen Fragen nicht überwältigen lassen, sondern mußte sich auf das Wichtigste konzentrieren. »Welches Jahr haben wir?« wiederholte er.
Lela Bouvy zuckte die Schultern. »Zweitausenddreihunderteinundneunzig«, antwortete sie gleichgültig.
»Ich verstehe nicht, wie die Welt sich seit meiner Zeit so völlig verändern konnte«, murmelte er. Er beschrieb ihr, wie es in seiner Welt aussah. Es beeindruckte das Mädchen nicht sehr. »Es war eine völlig natürliche Entwicklung«, erklärte sie. »Fast alle Leute ziehen es vor, frei zu sein, nicht ständig am gleichen Ort zu leben und durch irgendeine dumme Arbeit gebunden zu sein. Unsere Welt ist auch noch nicht ganz frei. Wir Schweberleute sind bisher die einzigen, für die dieser Traum wahr geworden ist.«
Cargill machte sich seine eigenen Gedanken über diese Freiheit, wo die Menschen auf andere angewiesen waren, um ihre Maschinen repariert zu bekommen. Aber im Augenblick war er an Informationen interessiert, nicht an Kritik. Vorsichtig fragte er: »Wie viele Schweberleute gibt es denn?«
»Fünfzehn Millionen, etwa.« Sie sagte es, ohne lange zu überlegen.
»Und wie viele Zwischner?«
»Drei Millionen oder so.« Ihre Stimme klang verächtlich. »Diese Feiglinge leben in Städten.«
»Und wie sieht es mit den Schatten aus?«
»Hunderttausend, möglicherweise auch mehr oder weniger, aber nicht viel.«
Cargill nahm nicht an, daß sie die Zahlen genau kannte. Sie schien ihm nicht der Typ, der sich für solche Dinge sonderlich interessierte und deshalb ernsthaft darüber Bescheid wußte. Aber zumindest konnte er sich durch ihre Auskunft ein ungefähres Bild machen, das eine Lücke in seinem Wissen füllte. Er sah eine Wildnis vor seinen Augen, ein paar vereinzelte Städte und eine größere Zahl von Schwebern, die aufs Geratewohl durch die unteren Luftschichten trieben. Er nickte und blickte nachdenklich vor sich hin. »Und die Schatten sind die herrschende Klasse?« fragte er.
»Hier herrscht niemand über niemanden!« behauptete Lela gereizt. »Du hast mich ein Loch in den Bauch gefragt. Kümmere dich um etwas anderes. Ich habe Besseres zu tun, als deine Fragen zu beantworten.«
Sie wandte ihm den Rücken und ging.
Die nächsten Stunden war Cargill sich selbst überlassen. Er sah Lela nur ganz flüchtig, als sie ein Mittagessen für sich und ihren Vater zubereitete. Er richtete sich selbst etwas, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Erst am Nachmittag beschäftigte er sich mit dem, was er von dem Mädchen erfahren hatte. Der Bevölkerungsrückgang gab ihm zu denken und beunruhigte ihn. Der große Kampf um die Existenz erschien ihm plötzlich nutzlos. Alle Ambitionen des zwanzigsten Jahrhunderts
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