Der Zeitspieler
fuhr die Stimme fort. Jetzt erst fiel Cargill auf, daß sie durchaus nicht dasselbe sagte wie vor Monaten. »Hören Sie sich den Fall Marie Chanette an«, vernahm er gerade.
Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als zuzuhören, obgleich er vor Ungeduld fast barst. Doch allmählich wurde er ruhiger und lauschte fasziniert.
Es war tatsächlich als direkte Folge von Marie Chanettes Tod viel geschehen. Sie starb an ihren Unfallverletzungen und unter großen Schmerzen. Die Schmerzen vergingen mit ihrem Tod, aber das war nicht das Ende. Es gab kein normales Ende. Marie Chanette hinterließ eine drei Jahre alte Tochter und einen Mann, von dem sie, obgleich sie getrennt von ihm gelebt hatte, noch nicht geschieden war. Der Kampf um das Sorgerecht für die Kleine war erbittert geführt worden. Beim Tod Maries fiel es automatisch an ihren Mann. Der Vater brachte die kleine Julia Marie vormittags in einen Kindergarten und nachmittags bei einer Nachbarin unter. Die erste Zeit verbrachte er manche Abende mit ihr, doch seine Arbeit verlangte häufige Abendbesuche bei seinen Kunden. Immer öfter blieb er auch mit seinen alten Freunden beim Bier sitzen und dachte sich, daß das Kind ihn nicht vermißte. Außerdem war Julia Marie jetzt ohnehin viel besser aufgehoben als zur Zeit, da ihre Mutter noch lebte, schließlich zahlte er ja genug für ihre Versorgung. Als sie ihn einmal fragte, weshalb sie keine Mama habe wie andere Kinder, erzählte er ihr seine entstellte Version der Wahrheit.
Er erfuhr dabei, daß sie sie bereits kannte. Sie hatte sie von anderen Kindern gehört, die sie noch weiter ausgemalt hatten. Der Schock darüber fraß sich tief in ihrem Herzen fest. Sie wuchs heran, labil, mit ewigen Pusteln im Gesicht, leicht erregbar, ein launenhaftes, dickköpfiges Kind. »Genau wie deine Mutter, verdammt noch mal!« brüllte ihr Vater sie an, wenn er betrunken war.
Julia Marie kam nie über die Spannungen ihrer Kindheit hinweg, obgleich sie sich zu einem hübschen Mädchen entwickelte und einen kurzen, aber stürmischen Liebesfrühling im Alter zwischen 21 und 25 erlebte. 1993 heiratete sie einen jungen Mann namens Thompson, für den sie eigentlich zu schade war. Aber ihre Minderwertigkeitskomplexe waren zu ausgeprägt, als daß sie nach etwas Höherem gestrebt hätte. 2002 wurde sie von einem Jungen entbunden, 2004 von einem Mädchen. Sie starb 2008 angeblich an den Folgen einer Unterleibsoperation, in Wirklichkeit machten jedoch ihre überreizten Nerven nicht mehr mit.
Thompson behielt eine Weile noch seinen Job bei, doch da seine Frau mit ihrer dominierenden, ja geradezu furchteinflößenden Persönlichkeit ihn nicht länger antrieb, zog er sich allmählich in eine Flucht vor der Verantwortung zurück. Er dachte nicht an all die Privilegien, die er sich während seiner fünfzehn Jahre bei der Atommotor-Gesellschaft erworben hatte. Gerade als er auf Anraten des Betriebspsychologen in eine andere Abteilung versetzt und auf einen höheren Posten befördert werden sollte, kündigte er. Er verkaufte sein Haus und wurde ein Schweber.
Schon damals in den ersten glorreichen Tagen dieses neuen Lebensstils nannte man sie so. Es waren Menschen, die ihr Leben in den Lüften verbrachten. Den ganzen Tag trieben sie in einer Höhe von ein paar hundert Metern bis zu mehreren Kilometer durch die Gegend. Des Nachts landeten sie irgendwo an einem See oder Fluß und angelten Fische oder schwebten dicht über dem Meer dahin, wo sie ihre Netze auswarfen und ihren Fang an Konservenfabriken verkauften. Sie gingen auch nieder, wo die Ernte einzubringen war und boten ihre Dienste an. Sie waren die neue Generation der Obstpflücker, Erntehelfer und Taglöhner. Sie blieben einen Tag, eine Woche, doch selten einen Monat an einem Ort. Sie wollten nur soviel Geld, wie sie bis zum nächsten Tag brauchten.
2030 schätzte man die Schweber in den Vereinigten Staaten von Amerika auf etwa neunzehn Millionen. Die auf dem Boden gebliebene Majorität erschrak, und die Wissenschaftler prophezeiten Wirtschaftskrisen, falls nicht etwas unternommen würde, die in der Luft schwebende Bevölkerung auf die Erde zurückzubringen. Als ein hartbedrängter Kongreß 2032 ein Gesetz zu verabschieden suchte, das die Privatschweberei nur als Urlaubs- und Ferienbeschäftigung gestattete, war es bereits zu spät. Die Stimmenzahl der Schweber schüchterte die Gesetzgeber ein, und von da an bildeten die Schweber, die selbst einen ordentlichen Schrecken davongetragen
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