Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Überraschung ein großer Spalt auf, und ein breiter, befriedigender Brocken Zement löste sich. Er hatte vielleicht einen halben Meter Durchmesser und war schwer zu heben. Ich riß ihn hoch und lehnte ihn an den Zaun. Ich wollte gerade wieder zu dem Hammer greifen, als ich Julies Stimme hinter mir hörte. »Das darfst du nicht.« Sie hatte einen hellgrünen Bikini an. In der einen Hand hielt sie eine Illustrierte, in der anderen ihre Sonnenbrille. Unsere Seite des Hauses lag im tiefen Schatten. Ich stellte den Hammer zwischen den Füßen am Boden ab und stützte mich auf den Stiel.
    »Was soll der Quatsch?« sagte ich. »Warum nicht?«
    »Hat Mammi gesagt.« Ich griff zum Hammer und ließ ihn auf den Pfad hinuntersausen, so schwer ich nur konnte. Ich blickte über die Schulter meine Schwester an, die die Achseln zuckte und wieder zurückging.
    »Warum?« rief ich ihr nach.
    »Sie fühlt sich nicht gut«, sagte Julie, ohne sich umzudrehen. »Sie hat Kopfweh.« Ich fluchte und lehnte den Hammer an die Wand.
    Ich hatte es ohne Verwunderung hingenommen, daß Mutter jetzt nur selten auf war. Sie wurde so allmählich bettlägerig, daß wir es kaum erwähnten. Seit meinem Geburtstag, vor zwei Wochen, war sie überhaupt nicht mehr aufgestanden. Wir hatten uns schon recht gut darauf eingerichtet. Wir trugen abwechselnd das Tablett hinauf, und Julie machte die Einkäufe auf dem Heimweg von der Schule. Sue half ihr beim Kochen und ich spülte ab. Mutter hatte lauter Illustrierte und Bücher aus der Leihbibliothek um sich liegen, aber nie sah ich sie lesen. Meistens döste sie im Sitzen, und wenn ich hereinkam, wachte sie leicht zusammenschreckend auf und sagte etwas wie, »Ach, ich muß einen Augenblick weggewesen sein.« Weil wir keine Besucher hatten, fragte auch niemand, was ihr fehlte, und daher stellte ich mir die Frage auch nie so richtig. Julie, wie sich herausstellte, wußte weit mehr. Jeden Samstagmorgen ließ sie das Rezept erneuern und kam mit der wieder aufgefüllten braunen Flasche zurück. Es kamen keine Ärzte zu Mutter. »Ich habe genug Ärzte und Untersuchungstests für den Rest meines Lebens gehabt.« Mir kam es vernünftig vor, wenn man Ärzte satt hatte.
    Ihr Schlafzimmer wurde zum Mittelpunkt des Hauses. Dort saßen wir jetzt, unterhielten uns miteinander oder hörten Radio bei ihr, wenn sie döste. Manchmal hörte ich, wie sie Julie Anweisungen gab für den Einkauf oder Toms Kleider, immer sanft und rasch mit gedämpfter Stimme. »Wenn Mutter wieder auf ist« wurde zu einem vagen und nicht herbeigewünschten Zeitpunkt in der nahen Zukunft, an dem die alten Grundmuster wieder Geltung haben würden. Julie trat ernst und tatkräftig auf, aber ich hatte den Verdacht, daß sie ihre Stellung ausnutzte und es genoß, mich herumzukommandieren.
    »Es wird Zeit, daß du dein Zimmer saubermachst«, sagte sie zu mir an einem Wochenende.
    »Wie meinst du das?«
    »Es ist dreckig, es stinkt da drin nach irgendwas.« Ich sagte nichts. Julie fuhr fort, »Also, mach’s sauber. Hat Mammi gesagt.« Weil meine Mutter krank war, glaubte ich, ich sollte ihr folgen, und obwohl ich im Zimmer nichts machte, dachte ich doch daran, und das Saubermachen machte mir zu schaffen. Mutter sagte nie etwas über mein Zimmer zu mir, und ich fing an zu vermuten, daß sie Julie gar nichts aufgetragen hatte.
    Ich starrte den Vorschlaghammer eine Zeitlang an, dann ging ich ums Haus in den hinteren Garten. Es war Mitte Juli, nur noch eine Woche bis zu den Sommerferien, und seit sechs Wochen hatte es nur heiße Tage gegeben. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß es jemals wieder regnen würde. Julie wollte unbedingt braun werden und hatte einen kleinen flachen Platz oben auf dem abbröckelnden Steingarten freigemacht. Jeden Tag breitete sie dort nach der Schule eine Stunde lang ihr Badetuch aus. Sie lag da, die Hände und Finger flach neben sich ausgestreckt, und drehte sich dann, nach vielleicht zehn Minuten, auf den Bauch und hakte sich mit den Daumen ihren Bikini auf. Sie hob ihre dunkler werdende Bräunung gern durch eine weiße Schulbluse hervor. Sie hatte sich gerade wieder niedergelassen, als ich um die Ecke kam. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf in die Unterarme gebettet, und schaute von mir weg über die wüste Fläche nebenan, wo große Brennesselbüsche am Verdursten waren. Neben sich, zwischen ihrer Sonnenbrille und einer dicken Tube Sonnenkrem, hatte sie ein Transistorradio im Taschenformat, in Silber und Schwarz, aus dem dünn

Weitere Kostenlose Bücher