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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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sehen!« schrie Julie. Wir fielen über ihn her wie eine Hundemeute über einen verwundeten Hasen. Wir trugen ihn ins untere Bad und machten die Tür zu. Alle vier hatten wir nur wenig Platz darin, und in dem hallenden Raum waren Toms Schreie ohrenbetäubend. Julie, Sue und ich drängten uns um ihn; wir küßten und streichelten ihn beim Ausziehen. Sue war selbst nah am Weinen.
    »Ach Tom«, sagte sie immer wieder, »unser armer kleiner Tom.« Trotz des Aufruhrs brachte ich es noch fertig, auf meinen nackten Bruder neidisch zu sein. Julie saß auf dem Wannenrand, und Tom stand zwischen ihren Beinen und lehnte sich an sie, während sie ihm das Gesicht mit Watte abtupfte. Mit ihrer freien Hand hielt sie ihn im Gleichgewicht, die Handfläche flach auf seinem Bauch, gerade über seinen Leisten. Sue hielt ihm einen kalten Waschlappen auf die wunde Hand.
    »War’s der Rothaarige?« sagte ich.
    »Nein«, heulte Tom. »Sein Freund.« Sobald er gesäubert war, schien er nicht mehr so schlimm verletzt, und die dramatische
    Stimmung verlor sich. Julie wickelte ihn in ein Badetuch und trug ihn nach oben. Sue und ich gingen voraus, um Mutter vorzubereiten. Sie mußte etwas gehört haben, weil sie aufgestanden und im Schlafmantel war, um herunterzukommen.
    »Nur eine kleine Schulrauferei«, sagten wir zu ihr. »Aber es geht ihm schon wieder gut.« Sie ging wieder ins Bett und Julie legte Tom neben sie. Später, als wir ums Bett saßen und beim Tee alles besprachen, schlief Tom, noch immer ins Badetuch gehüllt, ein.
    Einmal saßen wir nach dem Abendessen unten. Tom und Mutter schliefen beide schon. Mutter hatte Julie an diesem Tag zum Klassenlehrer geschickt, um mit ihm über die Prügelei zu reden, und wir sprachen darüber. Dann erzählte Sue Julie und mir, sie hätte eine »ganz sonderbare« Unterhaltung mit Tom gehabt. Sue wartete, bis sie einer von uns ermunterte.
    »Also, was hat er gesagt?« fragte ich müde, nachdem eine halbe Minute vergangen war. Sue kicherte.
    »Er sagte, ich soll’s niemand erzählen.«
    »Dann tu’s auch nicht«, sagte Julie, aber Sue fuhr fort, »Er kam zu mir ins Zimmer und sagte, >Wie ist das, wenn man ein Mädchen ist?< und ich sagte, >Schön, warum?< Und er sagte, er hätte es satt, ein Junge zu sein und wollte ein Mädchen werden. Und ich sagte, >Aber du kannst kein Mädchen sein, wenn du ein Junge bist<, und er sagte, >Doch, kann ich. Wenn ich will, kann ich.< Dann sagte ich, >Warum willst du ein Mädchen sein?< Und er sagte, >Weil einen keiner schlägt, wenn man ein Mädchen ist.< Und ich erklärte ihm, manchmal doch, aber er sagte, >Eben nicht, eben nicht. < Dann sagte ich, >Wie kannst du ein Mädchen sein, wenn alle wissen, daß du ein Junge bist?< Und er sagte, >Ich zieh mir ein Kleid an und mach mir das Haar wie du und geh zum Mädcheneingang rein.< Und darauf sagte ich, das könnte er nicht machen, und er sagte, doch, und dann sagte er, jedenfalls möchte er das, er will.«
    Sue und Julie lachten jetzt so sehr, daß Sue ihre Geschichte nicht fertigerzählen konnte. Ich lächelte nicht einmal. Ich war entsetzt und gebannt.
    »Armes kleines Ding«, sagte Julie jetzt. »Wir sollten ihn ein Mädchen sein lassen, wenn er das will.« Sue war begeistert. Sie klatschte in die Hände. »Er würde so schön aussehen in einem von meinen alten Röcken. Mit dem süßen kleinen Gesicht.« Sie schauten einander an und lachten. Es lag eine seltsame Erregung in der Luft.
    »Saublöd würde er aussehen«, sagte ich unvermittelt.
    »Ja?« sagte Julie kühl. »Warum, glaubst du?«
    »Das wißt ihr doch selber.« Es entstand eine Pause; Julie war dabei, ihren Zorn zu sammeln und zu formen. Ihre nackten Arme lagen auf dem Tisch, tiefer braun denn je im elektrischen Licht.
    »Ihn blöd herrichten«, murmelte ich und fühlte dabei, daß ich schweigen sollte, »bloß damit ihr was zum Lachen habt.«
    Julie sprach leise. »Du findest also, Mädchen schauen idiotisch, blöd, dumm aus.«
    »Nein«, sagte ich aufgebracht.
    »Du findest, es ist eine Erniedrigung, auszusehen wie ein Mädchen, weil du es eine Erniedrigung findest, ein Mädchen zu sein.«
    »Das wäre es auch für Tom, auszusehen wie ein Mädchen.«
    Julie holte tief Luft und ihre Stimme wurde sehr leise.
    »Mädchen können Jeans anhaben und sich die Haare kurz schneiden und in Hemdsärmeln und Stiefeln herumlaufen, weil es okay ist, wie ein Junge zu sein, für Mädchen ist das wie eine Beförderung. Aber wenn ein Junge wie ein Mädchen aussieht,

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