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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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dann ist das erniedrigend, wie du sagst, weil du heimlich meinst, es ist entwürdigend, ein Mädchen zu sein. Wieso könntest du sonst finden, es wäre eine Erniedrigung für Tom, wenn er einen Rock anzieht?«
    »Weil es eine ist«, sagte ich entschlossen.
    »Aber wieso?« riefen Julie und Sue zusammen aus, und bevor ich mir etwas ausdenken konnte, sagte Julie, »Wenn ich morgen deine Hose anziehen würde in der Schule, und du meinen Rock, könntest du schnell sehen, wem es damit schlechter ginge. Jeder würde auf dich zeigen und lachen.« Dabei deutete Julie über den Tisch, mit den Fingern grade vor meiner Nase. »Schaut euch den an! Der sieht ja aus. puh!. wie ein Mädchen!«
    »Und schaut euch die an!« Sue zeigte auf Julie, »sie sieht doch recht. überlegen aus in ihren Hosen.« Meine Schwestern lachten so sehr, daß sie, eine in den Armen der anderen, zusammenbrachen.
    Die Unterhaltung war bloß theoretisch, denn einen Tag danach war Tom wieder in der Schule, und der Lehrer schrieb Mutter einen langen Brief. Sie las Teile daraus laut vor, während Sue und ich den Eßtisch in ihr Schlafzimmer bugsierten.
    »Es ist eine Freude, Tom in der Klasse zu haben.« Mutter las diesen Satz ein paarmal hintereinander mit großer Befriedigung. Ihr gefiel auch, »Er ist ein sanftes, aber aufgewecktes Kind.« Wir hatten uns entschlossen, zu den Mahlzeiten in Mutters Zimmer zu kommen. Ich trug auch zwei kleine Sessel nach oben, und es war kaum mehr Platz, ums Bett herum zu gehen. Das Lesen erschöpfte Mutter. Sie legte sich auf die Kissen zurück und hielt die Brille lose in der Hand. Der Brief rutschte auf den Boden. Sue hob ihn auf und steckte ihn ins Kuvert zurück.
    »Wenn ich wieder auf bin«, sagte Mutter zu ihr, »malen wir das Zimmer unten neu aus, bevor wir die ganzen Möbel zurücktragen.« Sue setzte sich zu ihr aufs Bett und sie redeten über Farbzusammenstellungen. Ich saß am Tisch auf die Ellbogen gestützt. Es war spät am Nachmittag und noch immer sehr heiß. Die beiden Schiebefenster im Schlafzimmer waren so weit offen, wie es nur ging. Von draußen kamen die Geräusche von Kindern herein, die in den leeren Fertighäusern weiter oben an der Straße spielten, plötzliche Schreie über dem Gewirr von Stimmen, ein laut gerufener Name. Es waren viele Fliegen im Zimmer. Ich sah zu, wie eine meinen Arm entlanglief. Julie sonnte sich im Steingarten, und Tom spielte irgendwo draußen.
    Mutter war eingeschlafen. Sue nahm ihr die Brille aus der Hand, klappte sie zusammen und legte sie auf den Nachttisch; dann ging sie aus dem Zimmer. Ich lauschte dem Auf und Ab von Mutters Atem. Ein Schleimklümpchen in ihrer Nase kam so zu liegen, daß ein schwaches, hochtönendes Geräusch, wie von einer scharfen Klinge in der Luft, entstand und wieder verging. Den Eßtisch hier oben stehen zu sehen, war mir immer noch etwas Neues, ich konnte mich nicht ganz dazu aufraffen, wegzugehen. Ich sah zum erstenmal die schwarzen wirbelnden Linien in der Holzmaserung unter der dunklen Lackfarbe. Ich ließ die Arme auf der kühlen Oberfläche ruhen. Er wirkte handfester hier oben, und ich konnte ihn mir unten nicht mehr vorstellen. Vom Bett her machte Mutter ein kurzes, leises, schmatzendes Geräusch mit der Zunge an den Zähnen, als träumte sie, sie wäre durstig. Schließlich stand ich auf und stellte mich ans Fenster, mehrmals gähnend. Ich sollte Auf gaben machen, aber weil die langen Sommerferien bald anfingen, waren sie mir gleich. Ich war nicht einmal sicher, ob ich im Herbst die Schule weitermachen wollte, aber hatte doch auch keinen anderen Plan. Draußen zogen Tom und ein anderer Junge von ungefähr seiner Größe einen großen Lastwagenreifen die Straße lang, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Daß sie ihn zerrten und nicht rollten, machte mich unermeßlich müde.
    Ich wollte wieder zurück zum Tisch gehen, als meine Mutter meinen Namen rief, und so setzte ich mich zu ihr ans Bett. Sie lächelte und faßte mir ans Handgelenk. Ich nahm die Hand zwischen die Knie. Ich wollte nicht angefaßt werden, es war zu heiß dafür.
    »Was hast du vor?« sagte sie.
    »Nichts«, teilte ich ihr mit einem Seufzer mit.
    »Langweilig?« Ich nickte. Sie wollte mich streicheln, aber ich saß gerade so weit weg, daß sie mich nicht mehr erreichte.
    »Hoffentlich findest du einen Ferienjob, daß du ein bißchen Taschengeld bekommst.« Ich knurrte vieldeutig und wandte ihr kurz mein Gesicht zu. Ihre Augen lagen wie immer tief eingesunken, und die Haut

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