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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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um ihre Augen war dunkel und voller Windungen, als sei sie auch ein Sehorgan. Mutters Haar war dünner und grauer geworden, einige Strähnen lagen auf dem Bettuch. Sie trug eine graurosa Wolljacke über dem Nachthemd, und der Ärmel war vorne ausgebeult, weil sie dort ihre Taschentücher hinsteckte.
    »Setz dich etwas näher zu mir, Jack«, sagte sie. »Ich möchte dir etwas sagen, was die anderen nicht hören sollen.« Ich rutschte das Bett hinauf, und sie legte mir die Hand auf den Unterarm.
    Ein oder zwei Minuten vergingen, ohne daß sie sprach. Ich wartete, leicht gelangweilt, und leicht argwöhnisch, sie könnte über mein Aussehen oder mein vergeudetes Blut reden wollen. Wenn das kam, war ich entschlossen, vom Bett weg und aus dem Zimmer zu gehen. Schließlich sagte sie, »Ich muß vielleicht bald fort.«
    »Wohin?« sagte ich augenblicklich.
    »Ins Krankenhaus, damit sie vielleicht doch noch rauskriegen, was ich eigentlich habe.« »Für wie lang?« Sie schwieg, und ihre Augen bewegten sich von den meinen fort und starrten mir über die Schulter.
    »Kann sein für ziemlich lang. Deswegen möchte ich mit dir reden.« Ich war mehr daran interessiert, wie lange es ihrer Meinung nach wirklich dauern würde, und an meiner Besorgtheit zerrte ein Freiheitsgefühl. Aber sie sagte, »Das heißt, daß Julie und du jetzt die Verantwortung habt.«
    »Du meinst, Julie hat sie.« Ich war verstockt.
    »Ihr beide«, sagte sie fest. »Es ist nicht fair, alles ihr zu überlassen.«
    »Dann sag ihr das«, sagte ich, »daß ich auch die Verantwortung habe.«
    »Das Haus muß ordentlich geführt werden, Jack, und ihr müßt auf Tom aufpassen. Ihr müßt alles sauber und ordentlich halten, sonst weißt du ja, was passiert.«
    »Was?«
    »Dann kommen sie und geben Tom in Pflege, und vielleicht dich und Susan auch. Julie würde allein auch nicht hier bleiben. Und dann würde das Haus leerstehen, und das würde sich rumsprechen, und dann brechen sie ein, und stehlen Sachen, und schlagen alles kaputt.« Sie drückte mir den Arm und lächelte. »Und wenn ich dann aus dem Krankenhaus käme, wäre für uns gar nichts mehr übrig.« Ich nickte. »Ich habe für Julie ein Postsparkonto eröffnet, und darauf wird Geld von meinem Gesparten überwiesen. Es wird für euch alle eine ganze Weile reichen, auf jeden Fall, bis ich wieder aus dem Krankenhaus bin.« Sie lehnte sich in die Kissen zurück und schloß halb die Augen. Ich stand auf.
    »Gut«, sagte ich, »wann gehst du hin?«
    »Kann sein, nicht vor einer oder zwei Wochen«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Als ich an der Tür war, sagte sie, »Je eher desto besser, glaube ich.«
    »Ja.« Meine veränderte Stimmlage ließ sie die Augen wieder aufmachen. Ich stand in der Tür und wollte gehen. Sie sagte, »Ich bin’s über, den ganzen Tag herumzuliegen und nichts zu tun.«
    Drei Tage danach war sie tot. Julie fand sie, als sie von der Schule am Freitag nachmittag heimkam, dem letzten Tag vor den Ferien. Sue hatte Tom zum Baden mitgenommen, und ich kam ein paar Minuten nach Julie heim. Als ich in den Gartenweg einbog, sah ich sie aus Mutters Zimmer lehnen, und sie sah mich auch, aber wir nahmen einander nicht zur Kenntnis. Ich ging nicht sogleich hinauf. Ich zog Jacke und Schuhe aus und trank ein Glas kaltes Wasser am Spülbecken. Ich schaute in den Kühlschrank nach etwas Eßbarem, fand etwas Käse, und aß ihn mit einem Apfel. Das Haus war sehr still, und ich fühlte mich bedrückt von den bevorstehenden leeren Wochen. Ich hatte noch keinen Job gefunden, noch nicht einmal danach gesucht. Aus Gewohnheit ging ich hinauf, um Mutter zu begrüßen. Ich traf Julie auf dem Treppenabsatz vor Mutters Zimmer, und als sie mich sah, zog sie die Tür zu und bückte sich, um sie abzuschließen. Leicht zitternd stand sie dann vor mir, den Schlüssel fest mit der Faust umklammernd.
    »Sie ist tot«, sagte Julie gleichmäßig.
    »Wie meinst du das? Woher weißt du?«
    »Sie hat schon seit Monaten im Sterben gelegen.« Julie ging an mir vorbei auf die Treppe zu. »Sie wollte nicht, daß ihr Übrigen es auch wißt.« Das »ihr Übrigen« nahm ich sofort übel.
    »Ich möchte hineinschauen«, sagte ich. »Gib den Schlüssel her.« Julie schüttelte den Kopf.
    »Komm lieber runter, daß wir reden, bevor Tom und Sue zurück sind.« Einen Augenblick wollte ich ihr den Schlüssel entreißen, aber ich drehte mich um, und ging beduselt, blasphemischem Gelächter nah, hinter meiner Schwester

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