Der Zementgarten
hinunter.
5
Als ich in die Küche kam, hatte Julie dort schon Stellung bezogen. Sie hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und stand mit verschränkten Armen an das Spülbecken gelehnt. Sie hatte ihr ganzes Gewicht auf einen Fuß verlegt, der andere war flach gegen den Schrank hinter ihr aufgestützt, so daß ihr Knie herausstand.
»Wo bist du gewesen?« sagte sie, aber ich verstand sie nicht.
»Ich möchte hineinschauen«, sagte ich. Julie schüttelte den Kopf. »Wir haben beide die Verantwortung«, sagte ich und ging um den Küchentisch herum. »Hat sie zu mir gesagt.«
»Sie ist tot«, sagte Julie. »Setz dich. Verstehst du noch nicht? Sie ist tot.« Ich setzte mich.
»Ich habe auch die Verantwortung«, sagte ich und fing an zu weinen, weil ich mich betrogen fühlte. Meine Mutter war weg und hatte Julie nicht erklärt, was sie zu mir gesagt hatte. Nicht im Krankenhaus, sondern ganz weg, es gab keinen Beweis mehr. Einen Augenblick lang nahm ich klar die Tatsache ihres Todes wahr, und mein Weinen wurde trocken und hart. Aber dann sah ich mich als jemand, dessen Mutter eben gestorben war, und mein Weinen wurde wieder naß und leicht. Julies Hand lag auf meiner Schulter. Sobald ich es bemerkte, sah ich uns, wie durchs Küchenfenster, als lebendes Bild, sitzende und stehende Figuren, und war kurz im Zweifel, welche davon ich war. Jemand saß unter mir, wo meine Finger aufhörten, und weinte. Ich war mir unsicher, ob Julie zärtlich oder ungeduldig wartete, bis ich aufhörte zu weinen. Ich wußte nicht, ob sie überhaupt an mich dachte, denn die Hand auf meiner Schulter fühlte sich unpersönlich an. Diese Ungewißheit ließ mich aufhören zu weinen. Ich wollte ihren Gesichtsausdruck sehen.
Julie stellte sich wieder ans Spülbecken zurück und sagte, »Tom und Sue sind gleich da.« Ich wischte mir das Gesicht ab und schneuzte mich in das Küchenhandtuch. »Wir sagen’s ihnen lieber gleich, wenn sie hereinkommen.« Ich nickte, und wir standen fast eine halbe Stunde schweigend da und warteten.
Als Sue hereinkam und Julie ihr die Neuigkeit sagte, brachen beide in Tränen aus und umarmten sich. Tom war noch irgendwo draußen. Ich sah meinen Schwestern beim Weinen zu, ich fühlte, es wäre feindselig gewesen, woanders hinzusehen. Ich fühlte mich ausgeschlossen, aber ich wollte nicht, daß es so aussah. Einmal legte ich Sue die Hand auf die Schulter, wie es Julie bei mir getan hatte, aber keine gab darauf acht, so wenig wie Ringer im Clinch, also nahm ich sie wieder weg. Durch ihr Weinen hindurch sagten Julie und Sue unverständliche Sätze, zu sich selbst vielleicht, oder zu einander. Ich hätte mich auch gerne so gehenlassen wie sie, aber ich fühlte mich beobachtet. Ich wollte mich im Spiegel anschauen gehen. Als Tom kam, trennten sich die Mädchen und wandten die Gesichter ab. Er verlangte ein Glas Obstsaft, trank ihn aus, und ging. Sue und ich gingen mit Julie nach oben, und als wir hinter ihr auf dem Treppenabsatz standen und darauf warteten, daß sie die Tür aufschloß, stellte ich mir Sue und mich als Brautpaar vor, das in ein unheimliches Hotelzimmer eingelassen wird. Ich rülpste, Sue kicherte, und Julie machte pst.
Die Vorhänge waren nicht zugezogen, damit, sagte Julie mir später, »kein Verdacht aufkommen« konnte. Das Zimmer war voller Sonne. Mutter lag auf Kissen aufgestützt, die Hände unter der Decke. Sie hätte gerade eingedöst sein können, denn ihre Augen waren nicht offen und starr wie die von Toten in Filmen, sie waren auch nicht ganz geschlossen. Auf dem Boden beim Bett lagen ihre Illustrierten und Bücher, auf dem
Nachttisch standen ein Wecker, der noch tickte, ein Glas Wasser und eine Orange. Sue und ich sahen vom Bettende aus zu, wie Julie das Bettuch ergriff und über Mutters Kopf zu ziehen versuchte. Weil sie saß, reichte das Laken nicht über sie. Julie zog stärker, das Laken rutschte heraus, und sie konnte es ihr über den Kopf ziehen. Mutters Füße wurden sichtbar, sie staken unter der Decke hervor, bläulichweiß, mit einem Zwischenraum zwischen jeder Zehe. Sue und ich kicherten wieder. Julie zog die Decke über die Füße, und Mutters Kopf wurde nochmals sichtbar, wie wenn eine Statue enthüllt wird. Sue und ich bekamen einen Lachkrampf. Julie lachte gleichfalls; durch zusammengebissene Zähne, ihr ganzer Körper bebte. Das Bettzeug kam schließlich wieder in Ordnung, und Julie kam und stand mit uns am Fußende des Betts. Der Umriß von Mutters Kopf und
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