Der zerbrochene Kelch
zufriedenen Lächeln betrachtete er das Meisterstück und drehte es im schwachen Licht der Deckenlampe langsam hin und her. Obwohl sie noch nicht vollständig zusammengesetzt war, konnte Delvaux sich jedes Mal aufs Neue an ihrer Pracht begeistern. Er stellte sie vor sich auf den Tisch, griff nach einer Scherbe und schaute auf seinen Computerausdruck, wo sie an der Kylix am wahrscheinlichsten hingehörte. Genau in dem Augenblick, als sich seine Hand mit der Scherbe der Kylix näherte, begann der Tisch vor ihm zu wackeln, und die Trinkschale erzitterte.
Ein unheimliches Beben ließ die mykenischen Plastiken in den Glasvitrinen erzittern, und der Deckenleuchter über ihm schwenkte bedenklich hin und her. Für einen Augenblick überlegte Delvaux, ob das Erdbeben schlimmer werden würde und er den Raum verlassen müsste. Doch dann ließ das Erdbeben nach, und Delvaux’ machte mit seiner Arbeit weiter.
In den nächsten Minuten konzentrierte er sich so sehr auf die Rekonstruktion der Schale, dass er nicht merkte, wie Prof. Hillairet hinter ihm ins Büro ging und mit einem Katalog im Arm wieder zurückkam.
Vor der Tür wartete Spyros auf den Professor. Er sah Delvaux an seinem Arbeitstisch sitzen und grüßte ihn kurz, aber er bekam keine Antwort, was er mit einem Schulterzucken hinnahm. Es war nicht das erste Mal, dass Delvaux so sehr in seine Arbeit vertieft war, dass er niemanden mehr um sich herum bemerkte.
Irgendwie war es Spyros unheimlich, wie sehr die Kylix Delvaux in ihren Bann zog. Er hatte ein ungutes Gefühl dabei. Und dann diese Erdstöße, die sich verstärkt hatten, seit das neue Brunnenbecken entdeckt worden war.
Nikos hat Recht, dachte er. Die Kylix sollte am besten wieder verschwinden, sonst würde sie uns viel Unglück bringen. Wir hätten sie niemals ausgraben dürfen. Doch dazu war es jetzt zu spät. Er wusste, dass Delvaux sie nicht mehr herausgeben würde.
Schicksalsergeben wartete er auf Prof. Hillairet, der ihm unbedingt etwas aus dem Museumskatalog von Mykene zeigen und um seine Meinung fragen wollte.
Eigentlich war er froh, den Job bei der Ausgrabung bekommen zu haben, aber trotzdem hatte er seit einigen Tagen ein ungutes Gefühl, dass er bei der Grabung mithalf.
Hoffentlich würde es kein Unglück bringen.
31
Oben in den Bergen verließen Karen und Eliadis gerade die Korykische Grotte, als ein weiterer leichter Erdstoß sie nochmals taumeln ließ. Karen stürzte neben dem Altar vor der Höhle und sah, wie sich die alten Steine neben ihr einige Zentimeter bewegten. Sie knirschten und schienen gegen etwas zu protestieren, aber sie fielen nicht um. Eliadis zog Karen wieder hoch, während um sie herum einige Steine die Felsen herunterrollten und bedrohlich vor ihren Füßen liegen blieben.
Er murmelte etwas vor sich hin, von dem Karen nur die Wörter »Simon« und »Kylix« verstand, doch dann ging er einige Schritte voraus und forderte sie auf, ihm zu folgen.
»Kommen Sie, wir müssen wieder zurück. Es ist hier im Augenblick zu gefährlich.«
Mit einem unangenehmen Gefühl in der Magengegend dachte sie an den schmalen Weg zwischen der Hochebene und dem alten Stadion, den sie vor ein paar Stunden hochgekommen waren.
»Hoffentlich ist der Weg noch passierbar«, sagte sie besorgt.
»Wenn der Weg verschüttet ist, nehmen wir einen anderen. Ich kenne mehrere. Oder wir gehen über Arachova zurück, aber das wäre ein großer Umweg. Wir werden zuerst den kürzesten probieren.«
Karen wagte nicht zu widersprechen, obwohl sie am liebsten gleich den sichereren Weg über Arachova gegangen wäre, denn sie wusste nicht, ob er es mit seinem Klumpfuß schaffen würde. Wahrscheinlich war er deswegen auf einmal so knurrig und schlecht gelaunt. Sein Mund war nur noch ein einziger Strich, während sie wortlos zum Hochplateau marschierten und ohne Pause weiter den Berg hinuntereilten.
Als sie wenig später um einen großen Felsvorsprung herumgingen, lag vor ihnen eine Steinlawine, die mit ihrer Wucht einen Teil des Weges weggerissen und ihn halbiert hatte.
Karen warf einen ängstlichen Blick nach Delphi hinunter. »Sollen wir nicht lieber umkehren?«
»Umkehren? Jetzt, wo man das Stadion schon sehen kann? Blödsinn. Wir werden über die Steinlawine gehen.«
»Aber …«
»Keine Angst. Ich habe das schon öfter gemacht. Wir werden das schaffen. Das versprech ich Ihnen.« Und ohne zu zögern ging er vor und tastete sich mit Händen und Füßen über die verkanteten Steine. »Kommen Sie«, warf er
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