Der zerbrochene Kelch
Eliadis steckte sie in seinen Rucksack zurück, stand auf und reichte Karen die Hand, um sie hochzuziehen. »Wir müssen weiter. Glaubst du, dass es gehen wird?«
Karen zögerte. Sie hätte eigentlich noch einige Minuten mehr Erholung gebraucht, aber sie wollte auch so schnell wie möglich von hier weg. Zurück in Sicherheit. »Ich denke schon. Ich fühl mich zwar noch ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber es ist nicht mehr weit, nicht wahr?«
»Eine halbe Stunde bis zum Stadion. Und der Weg ist schön breit und weit vom Abhang entfernt«, versuchte er ihr Mut zu machen. »Du schaffst das.«
Karen nickte. »Ja, das glaube ich auch«, sagte sie zuversichtlich und konzentrierte sich dann auf den Weg vor sich.
Währenddessen saß Delvaux an seinem Arbeitstisch und fluchte über die Erdstöße, die immer gerade dann wiederkamen, wenn er eine Scherbe in der Hand hielt und die Kylix vervollständigen wollte. Jedes Mal, wenn er sich über die alte Trinkschale beugte und eine neue Scherbe einpassen wollte, kam ein Erdstoß, und die Kylix zerbrach unter seinen Fingern in mehrere Teile.
Diesmal hatte er Delvaux sogar von seinem Stuhl gestoßen, und nur knapp war sein Kopf der alten Deckenlampe entkommen, die direkt auf ihn niederfiel. Doch so leicht ließ er sich nicht von seiner Arbeit abhalten.
Er würde die Kylix wieder neu erstehen lassen … und wenn es das Letzte wäre, was er täte.
Am Abend saß Karen mit einem Glas Retsina am Schreibtisch vor dem geöffneten Fenster und blickte hinüber zum Phlemboukos-Felsen und zur Nationalstraße nach Athen.
Es wehte ein warmer Wind durchs Pleistos-Tal zu ihrer Hütte hinauf und spielte mit ihren nassen Locken, während sie gedankenverloren am griechischen Wein nippte und an Nikos denken musste. Es war leichtsinnig gewesen, mit ihm in die Felsen zu gehen, und es war ihre Schuld gewesen, was dort passiert war. Sie hatte sich zu viel zugetraut und wäre beinahe … Nein, sie mochte nicht daran denken.
Wieder in ihrer Hütte, hatte sie sofort ein heißes Duschbad genommen und sich den Staub und Angstschweiß von der Haut geschrubbt, ehe sie einen Bademantel angezogen und sich mit einer Flasche Retsina ans Fenster gesetzt hatte.
Delphi war ein gefährlicher Ort. Damit hatte sie nicht gerechnet.
Und wenn sie gewusst hätte, was sie am nächsten Tag erwartete, wäre sie wahrscheinlich sofort abgereist.
32
Es war am Sonntag kurz vor Mittag, als Karen wie verabredet an Delvaux’ Tür klopfte, um sich bei ihm Androuets Fotos der ersten Ausgrabung von 1892 anzusehen.
Delvaux öffnete ihr die Tür. »Kommen Sie herein, Karen. Das Fotoalbum wartet schon auf Sie.«
Er bat sie ins Wohnzimmer, wo ein dickes Album aus rotem Filz mit silbernen Jugendstilornamenten und ein Stapel alte Papiere daneben auf einem großen Couchtisch lagen.
Delvaux deutete auf das Sofa. »Nehmen Sie schon Platz. Möchten Sie etwas trinken?«
Karen winkte ab. »Nein, danke, bitte keine Umstände.«
Delvaux lächelte amüsiert. »Es könnte aber eine längere Sitzung werden«, sagte er geheimnisvoll.
»Glauben Sie? Sind es denn so viele Fotos?« Sie setzte sich aufs Sofa, wo sie fast in den durchgesessenen Polstern des alten Möbels versank. Rasch beugte sie sich nach vorn, griff nach einem Kissen neben sich und drückte es sich hinter ihrem Rücken zurecht. Dann lehnte sie sich zurück und strich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sich bei dieser Aktion keck nach vorn gewagt hatten.
Hinter ihr stand Delvaux, der sich bei jeder ihrer Bewegungen, die er fasziniert genoss, unbewusst auf die Lippe biss. Mit einem Schmunzeln musste er feststellen, dass Karen anscheinend nicht merkte, wie erregend sie in diesem Augenblick auf ihn wirkte, als sie sich über den Tisch beugte und ihr Busen sich deutlich im Gegenlicht abzeichnete. Ihr schönes Profil mit der zarten Nase und den vollen Lippen malte sich sanft gegen die hereinscheinende Mittagssonne ab, und die weiße durchschimmernde Bluse machte Karen noch attraktiver, auch wenn sie darunter ein T-Shirt anhatte, das tiefere Einblicke verwehrte. Ob sie einen BH trug?
Delvaux vermutete es, aber war das wirklich wichtig? So etwas war ihm eigentlich immer egal gewesen, das war kein wirkliches Hindernis. Schließlich war jeder BH in fünf Sekunden zu öffnen, wenn nicht schneller. Länger brauchte er jedenfalls nicht. Nur diese unterfütterten und gelbepackten Wonderbras ekelten ihn an. Mogelpackungen. Wie konnten sich Frauen so etwas nur antun? Er
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