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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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Karen über die linke Schulter zu, aber im Gegensatz zu ihm zögerte sie noch.
    Sie beobachtete, wie Eliadis sich behutsam über die losen Steine vorwagte, doch schließ ich folgte sie ihm. Vorsichtig tastete sie nach Halt, aber immer wieder rutschten einige Steine unter ihren Füßen weg und fielen den Abhang hinunter. Karen wurde schwindlig, als sie mehrere hundert Meter unter sich das Stadion sah.
    »Nikos«, sagte sie mit zitternder Stimme. »ich … ich kann das nicht. Ich habe es bis jetzt noch nicht gesagt, aber ich habe Höhenangst. Ich kann nicht weiter.«
    Sie hatte ungefähr die Hälfte der Steinlawine geschafft, als ihre Beine immer schwerer wurden und nachgeben wollten.
    Eliadis traute seinen Ohren nicht. Sie hatte Höhenangst? Und das sagte sie erst jetzt, nach alldem, was sie heute auf dem Weg zur Grotte gesehen hatte? Wütend biss er die Zähne zusammen und überlegte, ob er sich umdrehen sollte, um ihr zu helfen, doch das war ihm im Augenblick zu gefährlich. Jede zusätzliche Bewegung konnte ihn und die Steine ins Rutschen bringen und ihn ins Tal befördern.
    »Doch, Sie können das. Sie dürfen jetzt nur nicht aufgeben!«
    Vorsichtig arbeitete er sich über die Steinlawine weiter vor und erreichte nach einem kurzen Sprung wieder den festen Weg. Sofort stand er auf den Beinen und drehte sich zu Karen um. Sie bewegte sich weder vor noch zurück und lehnte sich nach Atem ringend schwer gegen die Steine.
    Eliadis hielt sich mit der linken Hand an einem Stück Felsen fest und reichte Karen die rechte. »Kommen Sie. Es ist ganz einfach, man muss sich nur ein bisschen vortasten. Und schauen Sie nicht nach unten. Sie haben es doch gleich geschafft.«
    Karens Beine waren völlig gelähmt. Trotzdem wollte sie nicht aufgeben. Der Weg zurück wäre genauso lang gewesen wie der nach vorn. Also los!
    Langsam kroch sie weiter über die Steine, bis sie in die Nähe seiner ausgestreckten Hand kam. Doch genau in dem Augenblick, als sie danach greifen wollte, gaben die Steine unter ihr nach, und sie rutschte der Felskante entgegen.
    Mit einem einzigen Reflex schnellte Eliadis’ Hand nach vorn, packte Karen am rechten Arm und zog sie zu sich auf den befestigten Weg. Dabei verlor er das Gleichgewicht, sodass sie beide auf den steinigen Boden fielen. Atemlos und am ganzen Körper zitternd lagen sie nebeneinander. Karen schloss für einen langen Moment die Augen.
    Nach Luft schnappend beugte sich Eliadis über Karen. »Es ist alles in Ordnung. Du hast es geschafft«, versuchte er sie zu beruhigen, doch wussten sie beide, wie knapp es eben gewesen war. Nur wenige Zentimeter, und er hätte Karen nicht mehr zu fassen gekriegt. Er atmete einmal tief durch und warf ihr dann einen einschätzenden Blick zu. Sie hatte immer noch die Augen geschlossen und war kreidebleich im Gesicht, aber ihre Atmung ging schon wieder etwas ruhiger. Dann wanderte sein Blick zum Stadion hinunter, das friedlich zwischen den Kiefern lag und auf sie zu warten schien. Eliadis knirschte mit den Zähnen. »Ich hätte mit dir einen anderen Weg nehmen sollen. Es ist meine Schuld.«
    Karen antwortete nicht sofort, da sie ihm insgeheim Recht gab, aber andererseits war sie ihm freiwillig gefolgt. Sie hätte darauf bestehen können, einen anderen Weg zu nehmen.
    »Es ist nicht so schlimm«, meinte sie schließlich. »Ich hätte das mit meiner Höhenangst früher sagen müssen, dann wären wir über Arachova gegangen.«
    »Nein, dann wäre ich gar nicht erst mit dir hier hochmarschiert.«
    Karen merkte, dass er sie auf einmal duzte, aber das störte sie nicht. Sie öffnete die Augen und stützte sich auf ihre Ellbogen. »Aber ich wollte unbedingt auf dem alten Pilgerweg zur Grotte gehen, so wie die Menschen damals auch. Ich musste es tun.«
    Sie setzte sich jetzt auf und wischte sich über die staubige Stirn, während Eliadis in seinen Rucksack griff und ihr seine Wasserflasche reichte. Erst jetzt merkte sie, dass ihr Rucksack fehlte. Sie sah sich um, aber er war nirgends zu entdecken.
    »Wo ist …?«
    »Frag lieber nicht. Ich hoffe, es war nichts Wichtiges drin.«
    Sie nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche und gab sie ihm zurück. Er griff danach und wollte sie wieder einstecken, doch Karen ließ die Flasche nicht los.
    »Du hast mir gerade eben das Leben gerettet, Nikos.«
    »Danke Gott dafür, nicht mir. Ich hätte dich nicht hier hochführen dürfen.«
    Er zog leicht an der Wasserflasche, und Karen ließ sie nach einem kurzen Augenblick los.

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