Der zerbrochene Kelch
Dadurch ist die Kolonie in Apulien entstanden.«
Karen griff noch mal nach einem Kefthédes-Bällchen und aß es vorsichtig wie eine seltene Frucht. »Gab es eigentlich auch Skeptiker, die die Pythia für eine Betrügerin hielten und ihren Aussagen misstrauten?«
Eliadis musste bei dieser Frage grinsen. »Aber sicher. Einige versuchten sogar sie durch Betrug zu übertölpeln und sie zu bezwingen.«
Karens Augen wurden groß. »Sie wollten Betrug durch Betrug aufdecken? Wie unehrenhaft.«
»Aber die Pythia nahm es mit Humor. Einer dieser Männer hielt einen kleinen Spatz in der geschlossenen Hand und fragte: ›Was habe ich in meiner Hand: Lebt es, oder lebt es nicht?‹ Je nachdem, wie die Pythia antwortete, wollte er den Vogel tot oder lebendig vorzeigen. Doch die Pythia antwortete: ›Freundchen, es ist, wie du es vorzeigen willst, du hast es in der Hand – entweder lebend oder nicht lebend.‹«
»Woher wusste sie, dass er ein Tier in der Hand hielt? Es hätte doch auch ein Stein oder eine Scherbe sein können?«
»Sie war die Pythia. Später versuchte noch ein gewisser Daphnites sie an der Nase herumzuführen, als er fragte, ob er sein Pferd wiederfinden werde, doch er besaß gar kein Pferd. Trotzdem antwortete die Pythia, dass er sein Pferd wiederfinden werde, aber von ihm heruntergestoßen werde und zu Tode komme.
Daphnites verlachte das Orakel, weil es ihm offensichtlich einen falschen Spruch gesagt hatte. Doch auf seinem Heimweg traf er auf Leute von König Attalos von Pergamon, den er vorher oft beleidigt hatte. Der König rächte sich nun und ließ ihn von einer Klippe stürzen, die man Pferd nannte. So bestraften ihn die Götter für seine Hybris und die Versuchung des Delphischen Orakels.«
»Simon meint, dass die Priester vom athenischen Adelsgeschlecht der Alkmaoniden bestochen wurden, um sie wieder an die Macht zu bringen. Die Pythia soll den Spartanern geraten haben, Athen von den regierenden Peisistratiden zu befreien.«
Eliadis zuckte mit den Schultern. »Das ist Spekulation. Athen wurde jedenfalls von einem Tyrannen befreit, und es wurden Grundlagen für Demokratie geschaffen.«
»Simon glaubt auch, dass die delphischen Priester überall ihre Agenten gehabt hätten, die immer Bericht nach Delphi erstatteten.«
Eliadis schnaubte verächtlich. »Das hätte niemals funktioniert. Es kamen ja nicht nur Könige und Stadtgesandte, sondern auch ganz normale Menschen mit ihren ganz normalen Fragen. Wann soll ich in diesem Jahr mit der Aussaat beginnen? Ist es gut für mich, wenn ich diese Frau heirate? Ich habe hier nicht genug zum Leben. Soll ich mich den Kolonisten anschließen? Und so weiter. Jeder bekam Rat von Apollon. Entweder durch einen Spruch der Pythia oder, wenn der Pilger kein Geld für ein Opfertier hatte, für einen kleineren Obolus ein einfaches Losorakel, bei dem eine Frage gestellt wurde, die man nur mit Ja oder Nein beantworten konnte.
Tausende Pilger bekamen dadurch jahrhundertelang einen Rat, der ihnen weiterhalf. Wenn Delphi so etwas wie Agenten gehabt hätte, wie viele hätten das dann sein sollen? Woher sollten sie wissen, welcher König oder welche Stadt demnächst Abgeordnete nach Delphi schicken würde? Und welche Frage sie dem Orakel stellen würden? Alles Blödsinn. Nicht einmal die heutigen Geheimdienste mit ihren modernen Informationsmöglichkeiten können genauere Aussagen machen. Sie müssten tausendmal besser sein als die Aussagen der Pythia, oder? Aber das hat den Menschen vom 11. September auch nicht geholfen.
Die Pythia hat die Athener immer gewarnt, und wenn sie ihnen mit ihrem Rat auch nicht immer zum Sieg verhelfen konnte, so hat sie sie doch aufgefordert, zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Wenn die delphischen Orakelsprüche nur geraten waren oder durch menschliche Informationen erteilt wurden, wären viele sicher falsch gewesen. Doch dann hätte Delphi niemals tausend Jahre lang existieren können.«
Karen seufzte. »Das habe ich Simon auch gesagt. Aber er mag Delphi anscheinend nicht.«
Eliadis nahm noch ein Kefthédes-Bällchen, ehe er die leere Dose schloss und in seinen Rucksack zurückpackte. »Würde ich vielleicht auch nicht, wenn die Felsen einen meiner Vorfahren getötet hätten.«
Karen begann nun auch, die Oliven und übrig gebliebenen Weinblätter in die Proviantdosen zu legen und diese in ihrem Rucksack zu verstauen. »Sie verteidigen Delphi und die Pythia immer, Nikos.«
Er wandte den Kopf ab und betrachtete seinen
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