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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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meinem letzten Stück um, als wäre es mein größter Konkurrent.
    Nach Lage der Dinge hatte ich Konkurrenten genug. Mein nächstes Stück, Der Mann mit zwei linken Händen, belegte auf einer Lenaia, zu der Aristophanes, Phrynichos und Kratinos nichts beigesteuert hatten, den zweiten Platz, gründlich geschlagen von Hermippos und nur knapp vor Ameipsias. Meine Stücke Die Weinreben und Die Städte bewahrte allein der Glanz der Kostüme vor dem schändlichen dritten Platz – ich bezahlte den Vasenmaler Phrygos für die Anfertigung aus eigener Tasche –, und auf den Dionysien schlug Aristophanes knapp meine Korinther, während Aristomenes’ Herakles von der Bühne gebuht wurde. Ich hatte mich schon mit einer Zukunft als der ewige Zweite abgefunden, als ich ganz unerwartet mit dem Stück Die Schmeichler gewann. Danach schien ich nicht mehr diesen unbändigen Drang zu verspüren, der mich dazu getrieben hatte, mich so oft wie möglich an Wettbewerben zu beteiligen. Obwohl ich stets ein Stück im Kopf hatte, stellte ich fest, daß ich mich durchaus dazu durchringen konnte, lieber eine Zeitlang damit zu warten, anstatt mich zu zwingen, es rechtzeitig zu den nächsten Festspielen fertigzustellen. Alles in allem kann ich mich nicht beklagen; ich habe siebzehn Chöre auf die Bühne geführt, sieben erste Preise gewonnen und bin nur einmal auf dem dritten Platz gelandet. Was meinen Ruf bei der Nachwelt angeht, so mache ich mir darüber längst keine Sorgen mehr. Neulich geriet mir beispielsweise eine Abschrift von Aristophanes’ Stücken in die Hände, in dem der Schreiber selbst die Ränder und die Rückseite der Rolle vollgekritzelt hatte und in die von diesem Dummkopf geschrieben worden war, Aristophanes’ Komödie Die Acharner hätte ein Stück namens Die Neumonde geschlagen, das dort mir zugeschrieben wurde. Ich habe nie ein Stück dieses Titels verfaßt, und wenn der Abschreiber so gescheit gewesen wäre, jemanden zu fragen, der mich kannte, hätte er herausgefunden, daß ich in jenem Jahr noch viel zu jung gewesen war, um einen Chor bewilligt zu bekommen; wie Sie sich vielleicht erinnern, handelte es sich bei den Acharner um jenes Stück, für das Aristophanes die Feier gegeben hatte, zu der ich gegangen war. Aber ich hatte keine Lust, den Abschreiber eigens aufzusuchen und auf der Berichtigung des Fehlers zu beharren, obwohl meine Neumonde angeblich auf dem dritten Platz gelandet sein sollten. Vor zwanzig Jahren hätte ich ihm für solche Behauptungen über mich natürlich kurzerhand den Kopf abgeschlagen.
    Nicht lange nach dem Erfolg der Schmeichler, zu einer Zeit, als ich noch ein Stückchen zufriedener mit mir war als sonst, hörte ich, daß meine Tochter Kleopatra gestorben sei, ganz plötzlich, weil sie verdorbenes Wasser getrunken hatte. Als mich die Nachricht erreichte, hatte die Beerdigung schon stattgefunden, da ich mich zu jenem Zeitpunkt mit einem Freund in Araphen aufhielt und niemand wußte, wo ich war. Mein Gastgeber hatte zwar Mitleid mit mir und schickte sogar die Gäste fort, die er eingeladen hatte, aber ich muß gestehen, daß mein vorherrschendes Gefühl Erleichterung war. Ich nehme an, das klingt sehr herzlos, besonders heutzutage, aber ich hatte das Kind nicht einmal zu Gesicht bekommen, und irgendwie schien es angesichts der Umstände seiner Geburt und dieses dummen, geradezu unverschämten Namens, den ihm Phaidra gegeben hatte, unsere Trennung zu verkörpern. Sie kennen die Geschichte des Helden Meleagros; wie die dritte Moire bei seiner Geburt prophezeite, daß er nur so lange leben werde, wie ein bestimmtes Holzscheit im Feuer brenne, und wie Meleagros’ Mutter das Scheit in einer Truhe verbarg, bis sie es eines Tages viele Jahre später im Zorn ins Feuer warf und so den Tod ihres Sohns herbeiführte. Nun, ich hatte es mir irgendwie in den Kopf gesetzt, daß ich es, solange Kleopatra lebte, nicht über mich bringen könne, Phaidra wiederzusehen, obwohl ich mich schon seit langem damit abgefunden hatte, daß es sich um mein eigenes Kind handelte. Jetzt aber war es gestorben, so plötzlich und unerklärlich wie Meleagros. Ich fühlte mich wegen Kleopatras Tod nicht schuldig; aber es schien mir irgendein Sinn darin zu liegen. Wenn ich einer jener Menschen wäre, die daran glauben, was in den Mysterien gesagt wird, würde ich bestimmt alles damit erklären, daß meine unschuldige Tochter zum Wohle der Menschheit geopfert werden mußte; doch mit derlei Unsinn konnte ich noch nie etwas

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