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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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nicht gesehen hatte, bot mit seinen teuren und prunkvollen Einrichtungsgegenständen einen großartiger Rahmen für ein Fest. Es gab dort mehr Liegen und Stühle als in Aristophanes’ Haus und genügend Mischgefäße, um die Ägäis mit dem Ozean zu mischen. Phaidra hatte alle weiblichen Gegenstände aus dem Haus entfernen lassen, und der Boden war peinlich sauber und trockengewischt. Trotzdem entdeckte ich draußen vor der Hintertür ein mit leeren Weinkrügen vollgestopftes Versteck, bereit für den Krugsammler, und ich fragte mich, wie sie es in aller Welt geschafft haben konnte, so viele allein leerzutrinken.
    Selbstverständlich hatte ich nicht damit gerechnet, daß selbst die Preisrichter – die man als die begehrtesten Sammlertrophäen eines Preisträgers bezeichnen könnte – auftauchen würden, zumal es sich dabei um Männer handelte, denen ich noch nie zuvor begegnet war. Aber sie kamen. Alle kamen, von Kleonymos und Theoros bis zu meinen unmittelbaren Nachbarn in Pallene; sogar Kratinos kam, obwohl er wirklich sehr krank war und früh gehen mußte. Nur Sokrates, Sohn des Sophroniskos, ließ sich nicht blicken, worüber ich insgeheim erleichtert war, weil er anscheinend nie betrunken wird und andauernd versucht, das Gespräch an sich zu reißen. O nein, ganz gewiß war es keine dieser gemütlichen kleinen Feiern, bei denen sieben oder acht enge Freunde im Halbkreis zusammensitzen und sich über den Sinn der Wahrheit unterhalten, so, wie die Leute heutzutage Siegesfeiern begehen. Es handelte sich um eine zünftige athenische Sauferei nach althergebrachtem Muster. Die formellen Trinkregeln, die ich mir ausgedacht hatte, der ausgeklügelte Ablauf und die Reihenfolge von Trinksprüchen und Trankopfern wurden wie die Schilde von Fußsoldaten fallengelassen, wenn die Reiter von hinten angreifen. Ich habe oft gehört, wie Atlantis vom Meer verschlungen wurde, aber bis zu jener Nacht konnte ich mir nie ein richtiges Bild davon machen.
    Zeitweilig stand es zwar auf des Messers Schneide, aber letztendlich hielt ich bis zum letzten Tropfen durch. Etwa eine Stunde vor Morgengrauen waren die einzigen, die noch sprechen konnten, Kallikrates, Philodemos, Euripides, Kleonymos und ich, und wir unterhielten uns über die Seele. Wir waren zu dem Schluß gelangt, daß sie unmöglich in der Leber wohnen könne, wo sie nach allgemeiner Auffassung angesiedelt ist, aber genausowenig in der Brust, da dort das Herz sitze und die beiden nie einer Meinung zu sein schienen. Damit blieb der Kopf übrig (was wir als albern empfanden), die Leiste oder die Füße, und ich kann mich nicht erinnern, zu welchem Schluß wir letztendlich gelangten.
    Am nächsten Morgen ließ ich die Sklaven zum Bodenschrubben und zum Beheben des Schadens zurück und ritt nach Pallene. Kleonymos begleitete mich einen Teil des Weges, und ich faßte mir ein Herz und dankte ihm für seine Unterstützung. Er stieß einen Laut aus, der sich irgendwo zwischen einem Lachen und einem abfälligen Schnaufen bewegte, und wechselte das Thema. Von allen Männern, die ich je gemocht hatte, war er, glaube ich, der abstoßendste, mit Ausnahme meines lieben Kratinos.
    Die ersten Tage in Pallene verbrachte ich damit, meine rasch zerbröckelnden neuen Terrassen zu inspizieren, um mich daran zu erinnern, daß ich nicht in allen Dingen erfolgreich war, und machte mich dann an die Arbeit. Der alte Tragiker Phrynichos, der seine besten Stücke zur Zeit von Themistokles schrieb und einst angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil sich viele nach seinem Stück Die Plünderung von Miletos so furchtbar niedergeschlagen fühlten, pflegte zu sagen, sobald ein Bühnendichter im Theater Platz nehme, um zuzuschauen, wie sein Chor auf die Bühne geführt wird, solle er seine nächste Eröffnungsrede bereits vollständig im Kopf parat haben – ich habe stets versucht, diesem Rat zu folgen. Wenn ein Stück aufgeführt wird und die Schauspieler herauskommen, um die ersten Worte zu sprechen, dann weiß man, daß man das Stück das erste- und letztemal hört. Es ist, als zöge man einen Sohn auf, den ganzen Stolz des Vaters, um ihn bei den Spielen an einem Rennen teilnehmen zu lassen; selbst wenn er gewinnt, weiß man, daß man ihn nie wiedersehen wird. Deshalb habe ich immer ein zweites Stück im Kopf, und sobald ich den Schauspielern meinen Text aushändige, tue ich mein Bestes, um ihn vollkommen zu vergessen. Desgleichen bemühe ich mich stets, es besser zu machen, und gehe mit

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