Der Ziegenchor
gebildete Lehrer fochten diese Interpretation aus einleuchtenden philologischen Gründen an, die mir leider entfallen sind, und korrigierten die Zeile wie folgt: »Die Spartaner kommen und bringen Krieg und abscheuliche Not mit der Vorhut.«
Wie sie erklärten, bedeute dies eine baldige Hungersnot, mit der verglichen die Pest ungefähr so schlimm wie eine schwere Erkältung gewesen sei. Diese Deutung rief bei der Bevölkerung natürlich große Sorge und Panikkäufe von Nahrungsmitteln hervor. Die Anhänger der ursprünglichen Auslegung reagierten darauf mit der Behauptung, die wissenschaftlich gebildeten Lehrer stünden allesamt im Dienst der Kornhändler, und diese Personen trügen die alleinige Verantwortung für den Ausbruch der Pest, weil sie sich als erste mit der Krankheit infiziert hätten. Man solle schleunigst etwas dagegen unternehmen, da es sich eindeutig um eine Verschwörung handle. Schon bald war die Stadt in zwei rivalisierende Lager gespalten, nämlich in die › Kämpfer für die Not‹ und in die ›Kämpfer für den Tod‹ (bis auf einen meiner Vettern namens Isokies, der einen Anteil an einem Getreideschiff besaß, waren ich und meine Verwandten allesamt ›Kämpfer für den Tod‹). Diese beiden Gruppen fingen nun damit an, nach Anbruch der Dunkelheit durch die Straßen zu ziehen und sich gegenseitig die Häuser niederzubrennen. Das ging eine ganze Zeit so weiter und endete schließlich in einem gewaltigen Aufruhr auf dem Marktplatz, in dessen Verlauf die Stände mehrerer Silberschmiede und eine Fleischerei geplündert wurden.
3. KAPITEL
Vor nicht allzulanger Zeit bin ich einmal ins Theater gegangen – ich glaube, das war am zweiten Tag der Lenaia –, nachdem ich tags zuvor mit einigen Freunden bis spät in die Nacht hinein zusammengesessen hatte. Ich war so müde, daß ich gegen Ende der ersten der drei Tragödien einschlief und erst wieder in der Mitte der zweiten aufwachte. Ich glaube, in der ersten ging es um Ödipus, und in der zweiten wurde irgendeinen Unsinn über Odysseus erzählt, allerdings kann ich mich, ehrlich gesagt, leider nicht mehr so furchtbar gut daran erinnern. Als ich jedenfalls wieder aufwachte, dachte ich zunächst, auf der Bühne spiele immer noch das Stück über Ödipus (es war derartig chaotisch, daß man es kaum einordnen konnte), und als ich endlich meinen Irrtum bemerkte, wurde ich aus dem Inhalt erst recht nicht mehr schlau. Schließlich gelangte ich zu dem Schluß, die Tragödie müsse irgend etwas mit Perseus und der Gorgo zu tun haben, und unter dieser Voraussetzung verfolgte ich das Stück bis zum letzten Abgang des Chores. Erst mehrere Wochen später klärte mich jemand zufällig darüber auf, wovon das zweite Stück an jenem Tag in Wirklichkeit gehandelt hatte, was ich ihm zunächst gar nicht glauben wollte.
Mit dieser ernüchternden Erfahrung vor Augen halte ich es an dieser Stelle meiner Erzählung für angebracht, genau zu erklären, worum es sich handelte, nur für den Fall, daß einer meiner Leser davon ausgeht, mein Buch spiele mitten in den Perserkriegen oder zu Zeiten der tyrannischen Herrschaft von Peisistratos. Natürlich kann ich unmöglich voraussetzen, daß Sie die historischen Hintergründe dieser Geschichte kennen, selbst wenn Sie aus Athen stammen; schließlich ist allgemein bekannt, daß wir Athener in Geschichte nicht besonders gut sind. Wir haben leider keine andere Möglichkeit, als einen Ausländer zu fragen, wenn wir uns Gewißheit darüber verschaffen wollen, wann sich ein Ereignis zugetragen oder wer was vor zwei oder drei Generationen getan hat. Meiner Ansicht nach liegt das daran, weil wir Athener die gesamte griechische Geschichte machen – so wie man im allgemeinen feststellt, daß der Umhang des Webers selbst schäbig und abgetragen ist und im Wohnhaus des Töpfers nur angestoßenes und unglasiertes Geschirr steht, verachten wir Athener unseren eigenen Hauptexportartikel und interessieren uns deshalb nicht sonderlich für ihn.
Jetzt stehe ich natürlich vor der Schwierigkeit, wo ich anfangen soll. Ich wäre zum Beispiel unheimlich froh, wenn ich Sie in das vergangene Heldenzeitalter zurückversetzen könnte, als die Götter noch unverhüllt unter den Menschen wandelten und Athena gegen Poseidon um die Herrschaft über Attika antrat. Solche Geschichten sind nämlich kinderleicht zu erzählen – damit könnte ich eine ganze Rolle vollschreiben, ohne ein einziges Mal die Feder absetzen und nachdenken zu müssen –, aber
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