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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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freizunehmen. Wenn gerade kein wichtiger Einsatz anlag, konnten auch die Ruderer auf den Kriegsschiffen mit der Kultivierung und Bepflanzung ihres eigenen Lands fortfahren. Zudem fiel es ihnen mit ihrem Sold nicht allzuschwer, sich über Wasser zu halten, während die Trauben und Oliven heranreiften. Auf diese Weise nahm die athenische Demokratie ihre einzigartige und unverkennbare Form an. Die Macht lag nun bei der ärmsten und größten Bevölkerungsschicht, die natürlich für das System stimmte, das für sie sorgte. Jeder, der in der Politik Erfolg haben wollte, mußte sich die Ruderer zu Freunden machen und sich ihre Gunst mit geeigneten Maßnahmen erkaufen oder sie mit klugen Reden unterhalten – oder am besten beides. Mit Ausnahme der freien Ausgabe von Weizen auf der Treppe der Propyläen war der Spielraum für das Erlangen der Wählergunst auf ein paar altbewährte und plumpe Methoden begrenzt, deren sich jeder bedienen konnte, und so wurde das Verfassen und Anhören von politischen Reden zum öffentlichen Zeitvertreib und entwickelte sich bei der athenischen Bevölkerung zu einer regelrechten Besessenheit. Wenn gerade keine Flottenbewegungen anstanden, hatten die Kriegsschiffsruderer eine Menge Freizeit, da die meisten von ihnen Ländereien zu bearbeiten hatten, die zweckmäßigerweise nur klein waren (besaßen sie nämlich mehr als vier, fünf Morgen Land, wären sie automatisch in eine der drei Steuerklassen eingestuft worden und hätten somit automatisch als Fußsoldat oder Reiter dienen müssen, was viel zu kostspielig geworden wäre, um noch von Einnahmen der staatlichen Seeräuberei leben zu können). Die Menschen kannten einfach keine bessere Art, einen freien Nachmittag zu verbringen, als mit einem Krug getrockneter Feigen in der Volksversammlung zu sitzen, klugen Reden zu lauschen und dann für die Annexion einiger weiterer Städte zu stimmen.
    Dieser neue politische Stil erforderte eine neue Sorte Politiker. Da die wahre Macht jetzt von der Volksversammlung ausging, hatte es keinen großen Sinn mehr, nach hohen Staatsämtern zu streben. Dafür hatte, zumindest theoretisch, jeder Bürger Athens das Recht, vor der Volksversammlung zu sprechen und einen ihm wichtig erscheinenden Schritt vorzuschlagen. Schon bald war allen klar, daß derjenige, der in der Politik vorankommen wollte, so oft und laut wie möglich Reden halten und Maßnahmen vorschlagen mußte. Zudem stand es jedem Bürger Athens offen, gegen jeden anderen Bürger bei Gericht Anzeige zu erstatten – und in Athen gibt es eine ganze Fülle von Gesetzen gegen unathenische Umtriebe, die speziell zum Nutzen der Politiker erlassen wurden. Zu dieser Zeit hatten wir Athener bereits unser großartiges Justizsystem entwickelt, wodurch sämtliche Verhandlungen vor riesigen Geschworenengerichten abgehalten wurden, die sich aus mehreren hundert Bürgern zusammensetzten. Zur Vervollkommnung dieses Systems fehlte nur noch die Einführung eines Lohns für die ehrenamtlichen Laienrichter. Deshalb schuf man für die Bürger Athens das Amt des Berufsgeschworenen, der allerdings noch vor Tagesanbruch aufstehen mußte, um noch einen Platz zu bekommen. Wenn er rechtzeitig zur Verhandlung erschien, konnte er sich einer rednerischen Darbietung von allerhöchster Qualität sicher sein und erhielt am Ende dieser Vorstellung einen ganzen Tagelohn. Für ältere und weniger aktive Menschen, die sich nicht mehr zum Umgraben von Äckern oder Rudern von Kriegsschiffen eigneten, war solch ein Lebensstil natürlich besonders verlockend, und darum waren die Richter insbesondere darauf bedacht, jeden für schuldig zu erklären, der ihnen die Lebensgrundlage durch neue Reformvorschläge zu entziehen versuchte. Andererseits waren ihnen Leute, die häufig vor Gericht standen, natürlich stets willkommen, weil es für jeden Prozeß auch ein Schwurgericht geben mußte, und deshalb wurden die Angeklagten nur sehr selten wegen irgendeines Vergehens verurteilt, auch dann nicht, wenn sie tatsächlich schuldig waren.
    Mehr oder weniger hat sich Athen auf diese Weise zur reinsten und vollkommensten Demokratie entwickelt, die die Welt jemals gesehen hat. Eine Demokratie, in der jedermann das Recht hatte, gehört zu werden, allen der Rechtsweg offenstand und niemand hungern mußte, wenn er es nicht allzusehr unter seiner Würde empfand, seinen Beitrag zur Unterdrückung von Mitbürgern und zum Justizmord an unbequemen Staatsmännern zu leisten. Als Nebenprodukte dieses Systems fielen

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