Der Ziegenchor
noch nackter Fels übrig war. Er hatte damals zwar einen schlechten Ruf, weil er ohne das Volk regierte und die Bürger mit Steuern belegte, aber ich habe mir über viele Jahre hinweg die Mühe gemacht, mehr über ihn herauszubekommen, und bin davon überzeugt, daß Athen ohne ihn heute nichts als ein kleines, von einem Holzzaun umgebenes Dorf wäre.
Wie dem auch immer sei, eines Tages kam Peisistratos an diesem kleinen Gehöft auf dem Hang des Hymettos vorbei und erblickte jenen unverbesserlichen Narren, der den kargen Boden in fruchtbares Ackerland zu verwandeln versuchte. Der bedauernswerte Mann mühte sich mit dem Pflug ab, brachte dabei aber nicht mehr zustande, als einige der kleineren Felsbrocken umzudrehen. Peisistratos war beeindruckt, denn das war ein Mann ganz nach seinem Geschmack. Er ging zu ihm hinüber und fing mit ihm ein Gespräch an.
»Das sieht mir nach sehr harter Arbeit aus«, sagte der Tyrann in liebenswürdigem Ton.
»Das kann man wohl sagen«, seufzte der Mann angestrengt.
»Du nimmst doch bestimmt dieses neue Programm in Anspruch, oder?« erkundigte sich Peisistratos und fügte ermutigend hinzu: »Was soll denn hier oben Schönes wachsen?«
»Hauptsächlich Blasen, zusammen mit ein bißchen Schmerz und Leid, wovon dann dieser Mistkerl Peisistratos fünf Prozent einsackt«, erwiderte der Mann wütend. »Na ja, ich kann nur sagen: von mir aus herzlich gern.«
Kaum war Peisistratos wieder in Athen, senkte er die Steuer für die landwirtschaftlichen Pioniere und besiegelte damit seinen Untergang. Denn um das so entstandene Defizit auszugleichen, hob er die Steuer für die übrigen Bürger auf zehn Prozent an, wodurch alle Betroffenen so fuchsteufelswild wurden, so daß Peisistratos bis zu seinem Tod nur noch auf politischen Widerstand und allgemeine Verstimmung stieß.
In genau diesen historischen Moment fiel meine erste Begegnung mit Aristophanes, dem Sohn des Philippos. Ich lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und sinnierte gerade darüber nach, wie schön das Leben doch wäre, wenn ich nur diese Ziegen nicht hüten müßte, als ich plötzlich von einem harten Stoß gegen das Schlüsselbein geweckt wurde. Ich schreckte hoch, griff nach meinem Stab und erblickte den großen Mann, der über mir stand.
»Steh gefälligst auf, wenn ich mit dir rede!« raunzte er mich an. Der Kerl hatte diese typische Stimme eines Städters, laut und durchdringend, und er war mir auf der Stelle unsympathisch. »Wer ist dein Vater, und wie heißt sein Demos?«
»Euchoros von Pallene«, antwortete ich wahrheitsgemäß, wobei ich mir das Schlüsselbein rieb. »Und wer will das von mir wissen?«
»Halt die Klappe!« befahl mir der Fremde. »Ich beschuldige Euchoros des Ziegendiebstahls.«
Jetzt wurde ich dem Fremden gegenüber noch mißtrauischer, da ich ganz genau wußte, daß mein Vater so etwas niemals getan hätte. Er erkannte jedes seiner Tiere sofort und hatte für alle einen Namen. Wenn sich einmal ein fremdes Tier in seine Herde verirrte, setzte er stets alles in Bewegung, um herauszufinden, wem es gehören könnte. Gelang ihm das nicht, opferte er es gewöhnlich den Göttern und veranstaltete für die Nachbarn ein Fest.
»Bist du dir da auch ganz sicher?« fragte ich. »Dann nenn mir gefälligst Zeugen!«
Ich glaube, in diesem Augenblick war er völlig verunsichert, denn er hatte bestimmt nicht damit gerechnet, daß sich ein Kind so gut in Rechtssachen auskannte. In Wahrheit hatte ich natürlich keine Ahnung davon; mein letzter Satz war mir einfach so herausgerutscht, da es sich dabei ganz zufällig um einen in unserer Familie häufig gebrauchten Spruch handelte. Jedenfalls blickte sich der Fremde verlegen um, als suche er irgendwo nach einer Eingebung, als sein Blick zufällig auf den alten weißen Ziegenbock fiel, der von mir dazu ausersehen worden war, eines Tages den Vorsitz des Preisgerichts auf den Panhymettischen Festspielen zu übernehmen.
»Zunächst einmal lade ich als Hauptbelastungszeugen den Ziegenbock vor, den Sohn des Ziegenbocks vom Gehöft des Peisistratos«, fuhr er fort. »Den Bock da, der mein persönliches Eigentum ist.«
»Nein, das stimmt nicht!« protestierte ich. »Der gehört meinem Vater!«
»Sei still, du kleiner Barbar, sonst zeige ich dich wegen Hehlerei an«, drohte mir der Fremde. Dann schien er jedoch einen Gewissenskonflikt mit sich auszutragen, der in ihm den Wunsch zum Einlenken hervorrief. »Ich sage dir, was ich tun werde«, fuhr er schließlich fort.
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