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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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antworteten mit lautem Jubel, der gelegentlich zu Erbrechen ausartete. Kallikrates und ich standen vollkommen reglos da und taten so, als wären wir Türpfosten, doch die Bande bemerkte uns trotzdem und blieb jählings stehen.
    »Das Ganze halt!« rief Aristophanes. »Spartaner links voraus! Es werden keine Gefangenen gemacht!«
    Kallikrates, der in jüngeren Jahren selbst in Serenadenbanden mitgemischt hatte, hütete sich davor wegzulaufen, denn in dem Fall hätte man uns bestimmt verfolgt, eingeholt und zusammengeschlagen oder sogar getötet. Nein, mein Vetter wich nicht von der Stelle und gab keinen Laut von sich, in der Hoffnung, die Bande werde einfach weitergehen. Gewöhnlich funktionierte diese Taktik, aber leider nicht immer; und das war auch bei uns der Fall.
    »Seht mal, Leute«, sagte Aristophanes, »da drüben steht ein Spartaner, der keine Angst vor uns hat. Was wollen wir mit dem anstellen?«
    Seine Sangesbrüder machten mehrere ausgefallene Vorschläge, und ich spürte, daß sich Kallikrates allmählich Sorgen machte. Wie Sie noch zu gegebener Zeit feststellen werden, bin ich alles andere als ein tapferer Mensch. Aber damals war ich noch zu jung, um das wirkliche Ausmaß der Gefahr zu erkennen, in der ich schwebte, und nebenbei bemerkt beflügelt nichts meine geistigen Kräfte so sehr wie die nackte Angst. Obendrein drängte mich irgendein bösartiger Gott, das arme Mädchen, das nicht zu den Sklavinnen gehörte, aus Aristophanes Umarmung zu befreien. Falls dieser Flegel nämlich später mit ihr allein gewesen wäre, egal wie lange, hätte sie keinerlei Aussichten mehr auf eine gute oder auch nur annehmbare Hochzeit gehabt. Vergessen Sie bitte nicht, daß ich zu jener Zeit in einem Alter war, in dem Frauen noch eine solche Wirkung auf einen Mann haben – heutzutage empfinde ich sie dagegen als unerträgliche Plage.
    Ich holte jedenfalls tief Luft und schrie: »Bist du wirklich so betrunken, daß du nicht mal mehr den Ziegenhirten vom Hymettos, vom Gehöft des Peisistratos, wiedererkennst?«
    Damit er mein Gesicht sehen konnte, hielt ich die Fackel hoch, die ich bei mir trug. Natürlich gab es keine Garantie, daß er mich nach den vielen Jahren, ganz zu schweigen von den Entstellungen durch die Pest, überhaupt noch wiedererkennen würde. Andererseits war ich jedoch – insbesondere bei Fackelschein – so häßlich, daß sich die beabsichtigte Wirkung vielleicht auch hervorrufen ließ, ohne daß er sich unbedingt an mich erinnern mußte. Aber Aristophanes entsann sich sofort und ließ vor Schreck beinahe die eigene Fackel fallen.
    »Hast du noch die kleine Hekate?« fragte ich ihn. »Die wirst du nämlich brauchen. Kannst du dich noch an den thessalischen Zauber erinnern? Und an die Ziege, wegen der du dir den Kopf aufgeschlagen hast, und an meinen Vater, den Magier?«
    Mit diesen Worten hielt ich die Fackel über Kallikrates’ Kopf, und obwohl mein Vetter nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich damit beabsichtigte, tat er sein Bestes, wie ein echter Zauberer auszusehen und böse dreinzublicken. Aristophanes wandte das Gesicht ab und spuckte in seinen Umhang, um das Glück heraufzubeschwören. Dadurch bekam das Mädchen seine Gelegenheit. Es biß Aristophanes in die Hand, der es augenblicklich losließ, rannte zu uns herüber und versteckte sich hinter Kallikrates’ Rücken. Zu jener Zeit nahm mich dieser Vorfall ziemlich mit, schließlich war das Mädchen durch mein Eingreifen gerettet worden.
    »Ich sage dir, was ich tun werde«, fuhr ich fort. »Angesichts der vorgerückten Stunde und des morgigen Festtags aller Hexen habe ich keine Lust, dich zu verzaubern. Ich nehme mir zum vollen und endgültigen Ausgleich einfach deine Ziege hier, und du kannst dir selbst ausrichten, daß du noch einmal knapp davongekommen bist.«
    Aristophanes mochte zwar furchtbar abergläubisch sein, aber ein Volltrottel war er nun auch wieder nicht, denn jetzt merkte er, welcher Narr er damals gewesen war. Anscheinend verstanden sogar seine Begleiter meine Anspielung, obwohl sie den Hintergrund der Geschichte natürlich nicht kannten, und kicherten los. Auf jeden Fall schienen sie das Interesse verloren zu haben, uns umzubringen, und wie ich annehme, bekamen sie allmählich wieder Durst. Sie setzten Aristophanes mit allerlei höhnischen Bemerkungen zu, und der Komödiendichter warf mir einen scharfen Blick zu, der selbst Senf zum Erstarren gebracht hätte. Doch dann schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein, denn

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