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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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dynamisch wirkt, ohne dass er hampelt. Wie Brandt in der Statue hebt er die Arme etwas unterhalb der Schulterhöhe parallel zum Boden und lässt die Hände und Finger baumeln, halb Strippenzieher, halb Marionette.
    Er kommt ganz nach vorne an den Rand der Bühne. Er spricht zum Thema Bildung und Chancengleichheit, erzählt von der Radiosendung, in der eine Mutter zu hören war, die ihrer Tochter beim Zoobesuch etwas zurief. Steinbrück: »Ich werde es zweimal sagen, denn beim ersten Mal werden Sie nicht wissen, was gemeint ist. Sie sagte: Schackeline, mach dem Mäh mal Ei.« Es ist ein sicherer Gag, die Halle lacht. Abgrenzung vom White Trash ist ein Reflex der Sozialdemokratie seit ihrem Beginn. Zugleich lobt er den Zugewanderten, der im selben Beitrag zu hören war: »Der sprach wie Sie und ich: Subjekt, Prädikat, Objekt.«
    Er bringt auch seinen Sketch vom Mietaufschlag, in dem er drei Rollen spielt: Martin, der, nachdem er »einen festen Job ergattert« hat, nun auch eine Wohnung mieten möchte, oft in Berlin-Kreuzberg. Die er über »das Internet« fand. Steinbrück gibt auch den derzeitigen Mieter, von dem wir wenig erfahren und vor allem nicht, warum er ausziehen möchte. Und schließlich den schurkenhaften Vermieter. Steinbrück spricht alle drei, den jungen Martin angemessen begeistert und naiv, den Schurken besonders gekonnt. 400  Euro habe die Miete bisher betragen, lernt das Publikum, der Vermieter sagt dazu aber mit kalter Verachtung: »Wie kommen Sie auf 400  Euro, die Miete beträgt nun 530  Euro?« Doch damit nicht genug, der Vermieter bringt noch einen weiteren, den größten Schurken ins Spiel: den Makler, der doch bisher mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte, denn Martin hatte das Angebot – wir erinnern uns – »im Internet« gefunden. »Jahaa«, heult Steinbrück in seiner Rolle als Vermieter auf, der Makler sei nun mal beauftragt, und seine Courtage werde unabhängig von seinem Anteil am Zustandekommen des Mietverhältnisses fällig und sei vom Mieter zu zahlen. Steinbrück wechselt an dieser Stelle wieder in seine neutrale Ansagestimme und verspricht mit eisigem Understatement: Unter seiner Kanzlerschaft werde der, der den Makler bestellt, ihn auch zu bezahlen haben.
    Für die Führung der drittgrößten Industrienation der Welt ist das bloß ein Detail und, vom Volumen des Problems her betrachtet, völlig irrelevant. Aber solche Details sind die Knoten der sozialen Textur, sind Pixel, die ein Gesamtbild ergeben.
    Steinbrücks Dramolett interessiert und fasziniert das Publikum, auch wenn in diesem Saal niemand von Kamen nach Kreuzberg ziehen und so bald keine neue Wohnung anmieten möchte. Es ist eine symbolische Geschichte, eine Fabel ohne Tiere. Die Lebensregeln im Hier und Jetzt – die rechtliche Lage entspricht genau der als ungerecht empfundenen Geschichte – richten sich gegen die Martins, die sich einrichten möchten in der Welt. Steinbrück wird diese Regeln ändern. Er verspricht keinen Umsturz, kein Wohneigentum für alle, keine dramatische und nicht zu finanzierende Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus. Er wird als Bundeskanzler vielmehr eine kleine Weiche umstellen, die den Lebenszug aller Martins, aller kleinen Mieter mit großen Sorgen, aller aufsteigenden Neubürger oder zum Umzug genötigten Arbeitnehmer schneller und weiter und reibungsloser fahren lässt, eine kleine, aber merkliche Befreiung von der Erdenschwere, ein bisschen mehr Fairness im Leben hienieden. Es ist ein Exemplum für seine Methode: Der Profi kennt die Stellschrauben und Ventile, mit denen das komplizierte, hier und da auch rostige und dysfunktionale System wieder so läuft, dass das Leben der Menschen in Kamen mit seiner Hilfe leichter wird. Er verspricht keine Revolution und den Himmel auf Erden, sondern das, was es schon mal gab in den ersten Jahrzehnten der Republik: Ordentlich bezahlte Arbeit, Mieten, die noch etwas vom Lohn übrig lassen, lebendige Vereine, sozialer Zusammenhalt, gepflegte Grünanlagen und gute Aussichten für die Kinder.
    Als alles vorüber ist, kommen die Gastgeber und wollen Steinbrück bescheren, ein eigenartiges Ritual, denn dass eher er in der Lage wäre, dem Verein etwas zu spenden, ist ja nun bekannt, und dass er hier Wahlkampf in eigener Sache macht, auch. Warum also braucht er noch Geschenke? Er bekommt zwei große Bilder mit Fotos von Fördertürmen, gerahmt, und fragt, ob die auch in den Kofferraum passen. Er bekäme ja sonst immer den örtlichen Magenbitter.

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