Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
nur um oben und unten, um links und rechts, es geht auch um die Furcht der Provinz, ganz vergessen zu werden, abgehängt von der Weite und Indifferenz des Landes, der windigen Fläche ausgeliefert zu bleiben.
Schröder machte noch Witze über gewisse Kandidatinnen, die bis zuletzt mit Jusos in Hannover durch die Kneipen ziehen, er meinte natürlich seine Frau Doris Schröder-Köpf damit. So beantwortete sich, in vielen kleinen Beobachtungen, auch die Frage, die sich auf dem Hinweg zur Stadthalle gestellt hatte: Die Genossinnen und Genossen kehrten gar nicht Freunden und Familie, dem Vereinsleben den Rücken. Dies war ihr Verein, hier trafen sie Freunde und Familie. Peer Steinbrück gehörte nicht dazu. Er folgte dem schwer umringten Gabriel ohne viel Aufhebens und allein in den »Löwenkrug«. Ein Abend, der noch Monate später Gegenstand öffentlicher Mutmaßungen sein sollte, wo sich doch jeder denken kann, welche Stimmung herrschte und wie die Linien verliefen. Immerhin, die SPD lag am Wahlabend vorn, die Regierung in Hannover wechselte. So war die Kanzlerkandidatur ihrem Ende im norddeutschen Winter gerade noch entkommen und erlebte einen neuen Morgen. Der weitere Pannen brachte und noch mehr Peinlichkeit.
Ein Freund des Kandidaten am nächsten Morgen am Telefon: »Das ist eben eine neue Rolle für ihn.« »Die des Kanzlerkandidaten?« »Nein, die des Dödels der Nation.«
Dann ging Peer Steinbrück auf Reisen.
4 Die komische Tour
Der Flughafen von Dublin ist wie alle neuen Airports dieses Typs eine komplexe Figur aus Shoppingmöglichkeiten in verschiedenen Dimensionen: Es gibt lange Korridore mit Boutiquen links und rechts, die auf eine große Halle führen, in der Läden rundherum auf die Kundschaft warten. Es gibt Shops oben und unten und auf der Seite. In der Mitte sind weitere Stände, und dazwischen werden Kreditkarten angeboten, damit man Geld kaufen kann, das man nicht hat für den Kauf von Waren, die man nicht braucht. Es gibt Filialen der üblichen großen Marken, eine Mischung aus Fußgängerzone und Nirgendwo. In einer Ecke sitzt unbehelligt ein Mann in den besten Jahren und schreibt. Er hat keinen Laptop, bloß Stift und Papier. Er legt dabei einen bemerkenswerten Eifer an den Tag, lässt sich weder von Gesprächen noch Gelächter stören, es sind die Haltung und das Handwerkszeug eines Studenten, der mittags vor dem Oberseminar ein Referat halten muss. Der Text ist die Vorlage einer Rede, die Steinbrück am Abend vor Studenten der London School of Economics hält. Steinbrück schreibt sich das Wesentliche noch mal raus, memoriert es wie einen Fahrplan für öffentliche Verkehrsmittel: Erst die großen Linien, dann die einzelnen Stationen. Wo will ich hin, wie lang soll es dauern, und was möchte ich unterwegs sehen?
Es wird ein mitreißender Auftritt, er schlägt den ganz großen Bogen von den Ursachen der Finanzkrise zu den Feinheiten der europäischen Antwort darauf, erwähnt die Lage in Südeuropa und die Ungerechtigkeit bei der Auswahl der zu rettenden Institutionen: »Gelegentlich möchte ich mich auch für systemrelevant erklären, insbesondere vor Wahlen!« Er spricht von der Gefahr des Sparens im Abschwung und mahnt: »Not frisst Demokratie!« Zum Schluss wendet er sich direkt an die Studierenden: »Der Punkt ist, dass ich von Ihnen erwarte, dass Sie sich auch um das Gemeinwohl kümmern.« Er weiß: »Den meisten von Ihnen sind politische Parteien suspekt, aber wer soll es denn sonst machen? Wer soll demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen herbeiführen? Bürgerinitiativen? Der Ältestenrat? Jahrelang hat man uns eingeredet, die Parteipolitik und der Staat brächten nichts zustande. Nun erwartet man plötzlich neue Spielregeln für die Finanzmärkte. Und mit diesem Widerspruch lasse ich Sie jetzt allein.« Damit beendet er seine Rede. In den Fragen kommt Kritik von links: Hat die SPD nicht brav alles mitgemacht? Und dann wieder aus der reinen Lehre des Neoliberalismus: Höhere Steuern würden doch nur den Gang der Wirtschaft verfälschen.
Später am Abend wird es weit ungemütlicher, da nimmt die Europatour Steinbrücks eine Kurve ins Aggressive und Absurde, aus der sie nicht mehr zurückfindet. Die Halle des Londoner Hotels ist von allerlei Nachtschwärmern bevölkert, es ist ein hektisches Kommen und Gehen, so dass man ständig das Gefühl hat, im Hintergrund gehe eine Sache vor sich, von der man aber nichts ahnt und dass es wohl besser so ist.
Steinbrück tourt fast
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