Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Speicher einer alten Villa öffnen. Danach taumelten alle lange Zeit nur blinzelnd und konfus durch die Landschaft, es war über weite Strecken ein Jahr der großen Konfusion.
Die große Abschlussveranstaltung der Niedersachsen- SPD war jedenfalls gar nicht leicht zu finden, wenn man nicht dazugehörte. Die Halle lag im Niemandsland zwischen Bahnhof und Altstadt. An einem dunklen, kalten Januarsamstag war natürlich niemand unterwegs. So ein langer Gang über vereiste Bürgersteige begünstigte die Frage, welcher Mensch es auf sich nimmt, an solch einem Winterabend das warme Heim zu verlassen, Feierpläne aufzuschieben und Freunden und Familie abzusagen, um in die Stadthalle zu kommen. Besessene? Sektierer? Ehrgeizige?
Noch bis ich vor dem Saal stand, war ich davon überzeugt, mich verlaufen zu haben. Weite, leere Straßen, kein Plakat und auch vor der Halle weder Polizei noch Filmteams in nennenswertem Umfang. Im Publikum waren die Herren und Damen mit weißem Haar fast in der Mehrzahl, viele trugen einen roten Schal, um mit einem Tupfer Farbe dem Winter zu trotzen. In der ersten Reihe saß Gerhard Schröder. Hubertus Heil, der ehemalige Generalsekretär, machte die Bedeutung der Landtagswahl deutlich: »Es geht um die Repräsentanz von Braunschweig am Kabinettstisch in Hannover!« Und Schröder erklärte: »Das Geheimnis von Wahl und Wiederwahl ist mit einem Wort zu sagen: Kampf. Und nicht mehr.« Es klang leicht gemein, als wolle er jemand Speziellen damit brüskieren, aber um das zu verstehen, musste man wohl ein Intimus der hiesigen Verhältnisse sein.
Steinbrück ist keiner. An diesem Abend setzte man nicht auf ihn. Seine Rolle war auf die des Mietrechtsexperten geschrumpft, er stand mit Manuela Schwesig, der schönen Arbeitsministerin von Mecklenburg-Vorpommern, an einem Tresen und sollte nicht reden, sondern talken. Ihr wurde von einer wie im privaten Radio alles wegmoderierenden jungen Frau auch die seltsamste Frage gestellt. Sie ist so faszinierend verunglückt, dass man sie hinschreiben muss, einfach um sie loszuwerden: »Manuela, du kennst dich ja mit guten Leuten aus, denn du arbeitest ja mit Erwin Sellering. Ist nun Stephan Weil auch so ein guter Mann wie Sellering, wäre er auch so ein guter MP ?« Was sollte Schwesig darauf antworten? Och, also, das sind beides blasse Typen, und ich könnte es besser?
Steinbrück fügte sich in das leicht neurotische Arrangement des Abends und hielt sich an die Mietsache, die Sache mit der Maklergebühr, es gab aber nur eine Kurzfassung des Sketches. Dann kam er noch auf Steuern zu sprechen und deren Zusammenhang mit der Familienpolitik. Er kritisierte das Ehegattensplitting, und dann kam es: Dann brachte er – in der Reihe vor sich Schröder, Glogowski und neben sich Sigmar Gabriel, schnell noch unter, dass er ja – »für Sozialdemokraten untypisch« fügte er an – immer noch in erster Ehe verheiratet sei. Und er beließ es nicht bei dieser hier ganz unerwarteten und unerbetenen Aussage, sondern begleitete sie durch die Siegesgeste mit dem rechten Arm, die sogenannte Becker-Faust.
Etwas später hatte Sigmar Gabriel das Wort und kam auf diesen Moment zurück: »Und was die Mehrfachehe angeht, Peer: Glogo, Gerd und ich – das merken wir uns.«
Kurz blitzte ein Clash der Sozenkulturen auf: Straßenkämpfer gegen Tennisspieler. Steinbrück lebt mit seiner Familie zusammen und wuchs in einer auf. Seine Karriere in der Partei ist keine klassische Aufsteigergeschichte, er hätte auch woanders eine beachtliche Laufbahn absolvieren können. Er braucht die SPD nicht als Ersatzfamilie, als Hilfe zum sozialen Aufstieg. Und er macht auch nicht den Eindruck, als brauche er unbedingt die Nestwärme eines genossenschaftlichen Vereins, in dem man alle Feste immer gemeinsam feiert, um sich sicher zu fühlen, die Minderwertigkeitskomplexe bändigen zu können. Das ist ungewohnt, vielleicht sogar suspekt.
Und so leicht gibt keine Seite auf. Als schon die Ersten den Saal wieder verlassen, hat Gabriel das Mikro in der Hand. Die beste, die wichtigste Rede hatte ja der Spitzenkandidat Stephan Weil halten dürfen, was er frei, mit viel Humor und sehr sympathisch tat. Doch nun gab es keinen mehr, der Gabriels Redezeit gestoppt hätte, also ließ er sich zu einem sehr langen, nahezu entgrenzten Riff hinreißen. Er nannte die Namen aller Kandidaten, der Wahlkreise und der einzelnen Stadtteile und Dörfer und stellte klar, wer hier alles über die Region wusste. Es geht eben nicht
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