Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Nun trumpft Wobedo auf: »Du, den bekommst du hier noch obendrauf.« Und dann durchfährt es ihn, dann nimmt Steinbrück, für Sekunden nur, diese eine Pose der Verzückung ein: Stellt sich auf die Zehenspitzen, Rückgrat zu einem Bogen durchgedrückt, rechten Arm an die Stirn, Kopf weit in den Nacken und dann zum Publikum gewendet, als könne er das nicht fassen, als wäre es so
too much
, eine auf Anhieb passende Pointenpose, die nach Vorhang und Applaus verlangt.
Er ist in diesem kurzen Augenblick nicht mehr der Lenker der Finanzwelt oder der hanseatische Staatsmann, er geht ganz auf in der Anerkennung dieses Milieus der Tüchtigen und dem, was er alles für sie sein kann. Er ist hingerissen, während der Saal jubelt, und verstärkt den Jubel so.
Wie gedopt bewegt er sich anschließend, jeden Kontakt genießend, durch diese Halle der ernsten Männer und tüchtigen Frauen. Und es ist weise, den Moment auszukosten, das Jahr so einzuleiten, mit diesem Bad in Deutschlands Mitte, die nicht Berlins Mitte ist und nicht die neue Mitte, sondern die soziale und kulturelle Mitte. Er schöpft hier etwas, was er am Abend gut gebrauchen kann. Da muss er in Braunschweig sein, es ist die letzte Versammlung vor der Niedersachsenwahl, die einfach gewonnen werden muss. Und es ist das Terrain und Territorium von Sigmar Gabriel. Der ihn nach der Veranstaltung schon in das Restaurant der düsteren Braunschweiger Halle einbestellt hat, ein Gespräch, über dessen Deutung sich die Lager noch Monate später streiten werden.
Gabriel hatte den Start des Wahlkampfs, nach seiner ersten Ergriffenheit, mit wachsender Sorge begleitet.
Sein Gefühl war, es sei »etwas abgerissen« zwischen der Partei und den Bürgern, ohne dass er es genau zu benennen gewusst hätte. Und mehr noch: Er litt, wie einst Bismarck unter dem »Cauchemar des Coalitions«, der Möglichkeit eines ungünstigen, seine Partei dauerhaft ausschließenden Bündnisses aller anderen. Er fürchtet ein Erstarken der Grünen in einer Dimension, die sie zu einem strategischen Wechsel hin zur Union befähigen würde. Dann wäre die SPD auf lange Sicht im Abseits, »Merkel würde ewig regieren«. Er unterstützte Steinbrück, verlor auch kein schlechtes Wort über den Mann, wohl aber über das Team des Kandidaten und den Versuch, eigene Strukturen parallel zu denen der Partei aufzubauen. War das nun das Resultat der Sturzgeburt, der mangelnden Vorbereitung der Partei und des Kandidaten, oder lag der Fehler im System der im Wesentlichen von engagierten Amateuren betriebenen Volksparteien innerhalb einer hochprofessionalisierten Mediendemokratie? Oder gar daran, dass niemand an einen Sieg glaubte und die Strukturen darum gar nicht groß bemüht wurden?
Oder lag es an dem Grundwiderspruch, mit dem die SPD zu ihrer Spitze steht: Alle sind Genossen, man duzt sich, es herrscht eine noch aus den historischen Zeiten des Verbots und des Kalten Krieges herübergerettete Verschwiegenheitskultur. Zugleich muss so eine Partei, die das ganze Land führen will, eine Persönlichkeit stellen, die sie in den Medien symbolisiert und eine Regierung führen kann. Der typische linke Weg, diesen Widerspruch aufzulösen, ist die säkulare Heiligsprechung: Man deckt diese Kluft mit Liebe zu. So wurden Willy Brandt und Helmut Schmidt zu überlebensgroßen Figuren. Doch schon mit Schröder klappte das nicht mehr so recht, zu umstritten war seine Amtszeit, in der er sich den Empfehlungen der Medien und der Wirtschaftswissenschaftler mehr beugte als den Gefühlen und Meinungen innerhalb seiner Partei, die sich daraufhin spaltete. Und mit seinem Abgang hat er, der sich ohnehin schon gerne gegen die Partei profilierte, gezeigt, dass er sie nicht braucht. Spätestens seit dem letzten sozialdemokratischen Kanzler, der noch lebt und arbeitet, aber als heiliger Obersozi nicht mehr zur Verfügung steht, ist völlig unklar, wie ein erfolgreicher SPD -Chef oder Kanzlerkandidat aussehen soll. Charismatisch, wie ihn sich Medien und demoskopisch erfasste Sonntagsbefragte wünschen? Oder skandinavisch integer und blassrosa, wie es die Partei gerne hätte? Ein Staatsmann oder ein Erneuerer aus den Ländern? Man irrt, wenn man bei der Deutung der Ereignisse dieses Wahljahres nach Schuldigen, nach Interessen und Defiziten von Personen sucht. In Wahrheit wurde die SPD von einem Haufen ungeklärter Geschichte, nicht gelöster Probleme und unbeantworteter Fragen begraben, wie Nachkommen, die unbekümmert die Bodenklappe im
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