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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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Kandidaten in einen Rahmen gespannt, und es sah nicht gut aus. Die ruhe- und trostbedürftigen Deutschen beobachteten einen Mann, den sie nicht sehr gut kannten und der sich zunächst verhedderte. Steinbrück blieb in der gesamten ersten Hälfte seines Wahlkampfs isoliert, auch weil die Themen und Angebote überlagert waren vom Interesse an seiner Person, er stand ihnen im Weg. Im Gegensatz zu einer in der SPD und auch in seinem Umfeld weit verbreiteten Meinung war er nicht zu früh, sondern zu spät zum Kandidaten ausgerufen worden. Fast zehn Jahre hat Angela Merkel gebraucht, um sich eine politische Basis zu erarbeiten. Ihren ersten Wahlkampf überließ sie Edmund Stoiber, im zweiten enttäuschte ihr Ergebnis schwer. Trotz der sprichwörtlich schnelllebigen Zeiten brauchen die Wähler lange, bis sie Vertrauen entwickeln und bereit sind, es jemandem zu schenken.
     
    Die Berliner Runde jenes Abends war eine Fortführung der letzten Wochen des Wahlkampfs. Es wurden erneut vor allem Geisterthemen beleuchtet, die keine große Relevanz hatten für die Zukunft des Landes, sondern die Abschattung waren von ganz alten Untoten. Es ging erneut um die Pkw-Maut für Ausländer, um das Betreuungsgeld und die diabolische Qualität der Linken, es war – Rabenmütter gegen Hausfrauen, freie Fahrt für freie Bürger, alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau – ein Halloween vor der Zeit. Keines dieser Themen war wichtig, die, die es waren – die deutsche Stellung in Europa, die Frage, wer die Bankenrettung bezahlen soll und wie die Grundrechte der Deutschen in der digitalen Kommunikation geschützt werden sollen – wurden nicht angesprochen.
    Im großen Saal im sechsten Stock musste wieder an den Fernsehgeräten gefummelt werden, die Flachbildschirme liefen leicht asynchron, aber es regte keinen groß auf. Von besonderer oder gar nachhaltiger Teilhabe der im sechsten Stock Versammelten am Geschehen auf dem Schirm konnte nicht mehr die Rede sein. Von den katastrophalen 26  Prozent der nachmittäglichen Prognose waren noch mal weitere Zehntel abgeblättert, nun stand die Zahl da wie eine böse lechzende Fratze. Die, die noch einigermaßen klaren Verstandes und wachen Sinnes waren, konnten nicht aufhören, zu weinen. Jemand hatte eine Flasche selbstgebrannten Sliwowitz organisiert. Jene, die am engsten mit Steinbrück zusammengearbeitet hatten,waren heiser und hatten rote Augenlider. Der Berater war fast tonlos, sein Fuß immer noch angeknackst. »Ich konnte da nichts mehr machen«, murmelte er.
     
    Merkel sprach auf allen Bildschirmen gleichzeitig. Ein leicht verwittert aussehender Künstler blinzelte planlos durch seine Brille und flüsterte dann mit perfektem Gefühl für den unpassenden Zeitpunkt Klaus Staeck ins Ohr: »Du, Klaus, die macht das echt gut.«
    Von den SPD -Größen war niemand zu sehen, da sah es aber noch so aus, als ob die Union eine absolute Mehrheit gewonnen hätte. Dies war Steinbrücks Party, und der wäre in solch einem Fall ja nur noch einfacher Abgeordneter gewesen. Selbst das Aus für die FDP , eine Entwicklung, die schon so oft prophezeit und nie eingetreten war, vermochte nur kurzfristig Schadenfreude zu mobilisieren und Trost zu spenden. Im innersten Kreis war auch von den Kosten des Mittelfinger-Fotos im Magazin der »Süddeutschen« die Rede. Mal geschah das mit Galgenhumor, als alle sich darauf verständigten, fortan ohne Worte zu sprechen, mal aber mit deutlicher Kritik an diesem Bild. Einige schoben die Verantwortung der Tatsache zu, dass man das Foto auf der Titelseite abgedruckt hatte. Aber alles andere wäre ja unprofessionell gewesen. Nicht der trägt die Verantwortung, der so ein Bild druckt, sondern der, der sich in einer solchen Pose aufnehmen lässt.
    Ich bin mir sicher: Es kostete jene paar Prozent, die durch die ganz am Schluss erzeugte Dynamik, das in den Fernsehauftritten erarbeitete, kompetente Image, noch hätten gewonnen werden können. Gerade die Unentschiedenen hatten nach dem Duell einen guten Eindruck von Steinbrück, aber die Mittelfingergeste verstärkte wieder ihre Zweifel an dem Kandidaten. Deren Stimmen fehlten dann zu einem zumindest respektablen Ergebnis.
    Doch es kam ja schlimmer als schlimm. Eine absolute Mehrheit für die Union wäre ein deutliches historisches Signal gewesen. Die Sozialdemokraten und Peer Steinbrück hätten nach Hause gehen und nach dieser Demütigung eine Phase der Kontemplation anschließen können. Doch der Wähler traf eine

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