Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
der bedrückendsten Abende meines Lebens entdeckte ich etwas Glänzendes auf einem der Stehtische: Dort lagen speziell angefertigte Flaschenöffner aus Stahl aus. Um den eigentlichen Öffner war eine kleine Kette montiert und ein Spruch von Peer Steinbrück stand drauf: »Hätte hätte Fahrradkette«. Es war seine schlagfertige Antwort auf eine der vielen Vorhaltungen gewesen, damals ging es um den Slogan, der schon mal woanders verwendet worden war.
»Turn weakness into strength« – Pannen zugeben und gerade diese Offenheit zu neuer Stärke ummünzen, das hatte nicht geklappt. Eine verunsicherte Bevölkerung wollte nicht zu den trickreichen Schwachen gehören, sondern sich auf Seiten der gelassenen Starken wissen. Sie würden die unübersichtliche Welt dann schon ordnen. In diesen Zeiten wollten alle auf Seiten der Sieger sein, auch wenn es bei den Losern geistreicher zugehen mochte.
An den Stehtischen draußen vor dem Willy-Brandt-Haus standen Kollegen und tranken noch ein Bier. Es war windig und spät, wir plauderten über den Abend und die allgemeine Lage, als Manuela Schwesig aus dem Kompetenzteam an uns vorbeilief, dicht gefolgt von einem grellen Scheinwerfer und einer laufenden Kamera. Dieser Wahlkampf war zu Ende, ein anderer hatte begonnen.
14 Vorwärts wohin?
Sollen, obwohl das Recht Europas eine solche Unterscheidung verbietet, ausländische Autos auf deutschen Autobahnen eine Maut bezahlen? Sind Steuern gut oder schlecht? Haben die Grünen in ihrer Entstehungszeit in den frühen achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in manchen Kommunen und Landesverbänden eine zu hohe Toleranz gegenüber Pädophilen gezeigt? Wenn Sozialdemokraten sagen, sie würden mit der Linkspartei nicht koalieren, lügen sie dann? Brauchen wir in den Kantinen des Landes ab und zu einen Tag, an dem nur vegetarische Gerichte angeboten werden?
Das waren die sogenannten inhaltlichen Komplexe, die es am Ende eines langen Wahljahres in den Zieleinlauf schafften. Die Euro-Krise war kein Thema mehr, die Verletzung der grundgesetzlich geschützten Rechte durch Geheimdienste und private Internetfirmen war keines, nicht die Außenpolitik und schon gar nicht der Klimaschutz, trotz des x-ten Jahrhunderthochwassers in wenigen Jahren. Kulturelle Themen fehlten völlig, selbst die Digitalisierung, ein alle Branchen, alle Lebensbereiche erfassender Wandel von der Dimension der industriellen Revolution, kam nicht vor.
Die in den letzten Wochen verhandelten Spezialthemen schienen mir wie Testmails, die die EDV -Abteilung verschickt, um gewisse Funktionen zu prüfen. Sie kamen daher wie echte Botschaften, aber sie enthielten keinen Inhalt und waren gefahr- und rückstandslos zu löschen. Es waren Übungsfragen, wie man sie im Deutschunterricht formuliert, wenn die Schüler die dialektische Erörterung lernen sollen. Man hätte mit demselben Recht über die Frage diskutieren können, ob in Deutschland wieder Wölfe heimisch werden sollen, ob es sinnvoll ist, den Führerschein schon mit 16 machen zu dürfen, oder ob Jura ein Schulfach sein sollte. Es sind Themen, über die man sich unterhalten kann, die aber vor allem durch große gesellschaftliche Irrelevanz glänzen.
Solche Scheindebatten waren in Wahrheit ein Beleg für die von Stephan Grünewald analysierte tiefe Verunsicherung der Deutschen. Seine Einschätzungen vom Sommer, während unseres Skype-Gespräches zwischen San Francisco und Frankfurt, erwiesen sich als die besten Prognosen. Im Grunde hatte er das Ergebnis vom 22 . September perfekt vorhergesagt. Die Wähler wollten eine große Koalition mit einer sehr starken Frau als Herrin im Hause.
Die Deutschen operierten wie in dem berühmten Beispiel des amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman: Ein Mann möchte sein Geld in Aktien anlegen. Er ist kein Profi, kennt sich nicht besonders gut aus. Ihm ist klar, dass es schon eine große Anstrengung braucht, um die Gesundheit und die Aussichten eines Unternehmens abschätzen zu können. Er macht sich Gedanken und spaziert durch die Straßen. Irgendwann während des Spaziergangs bildet sich sein Entschluss: »Ich werde Aktien der Firma Ford kaufen.« Was war geschehen? Laut Kahneman hat das Hirn eine komplexe und tendenziell überfordernde Frage – welches Unternehmen bietet langfristig gute Renditeaussichten? – unbewusst durch eine wesentlich leichter zu beantwortende Frage ersetzt: Welches Auto gefällt mir?
Solche Verschiebungsprozesse macht unser Gehirn andauernd, und
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