Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
gut im Geschäft. Und er ist vertrauensselig. Ich stehe hinter dem Schreibtisch, um von dort dem Gespräch zu folgen, und kann, fein säuberlich auf Aufkleber notiert, seine PINS und Logindaten für diverse Internetportale, darunter das seiner Bank, studieren. Steinbrück hat sichtlich Spaß an dem Mann und auch an der Ziellosigkeit des Termins. Er stellt lächelnd fest: »Sie sind ja ein Menschenfreund!« Als sei er auch einer oder auf dem Weg dorthin. Irgendwann macht der Fotograf, der viel und gern redet, eine kleine Pause. Er möchte noch etwas wissen: »Und wie geht’s Ihnen zur Zeit?« In seinem bis auf den letzten Fleck besetzten Zimmer, in dem zig Notizblöcke gezückt sind, die Aufnahmegeräte laufen und sehr viele Kameras im Einsatz sind, bricht ein riesiges Gelächter aus. Der nächste Besuch ist der fragwürdigste. Zwei junge Männer haben ein Buch, eine Art historischen Fantasykrimi à la Dan Brown, veröffentlicht und dazu gleich Verlag und Filmfirma gegründet. Einer der beiden plappert unentwegt. Sie wollen ganz oben einsteigen, träumen vom großen Ding mit der A-Liste von Hollywood. Wenn man den selbstanpreisenden Monolog einmal kritisch hinterfragt, wird klar, dass sich seit drei Jahren nichts tut. Sie reisen mit dem Vorhaben von Messe zu Messe, aber weder sind Dreharbeiten in Sicht noch steht irgendeine Finanzierung. Es gibt einen Trailer für den Film, der im Frankreich der Vorzeit spielen soll, ich entdecke einen Schreibfehler auf einer Grabplatte. Sie packen dem Kandidaten eine Tüte mit Geschenken und Ware, also das Buch, die DVD und Hörbücher, einzelne Journalisten rufen respektlos: »Und noch ’ne Salami obendrauf.«
Das schöne Schwäbisch Gmünd erfreut auch bei frühherbstlichem Wetter mit dem berühmten historischen Marktplatz, auf dem uns schon das magentafarbene, mannsgroße heliumgefüllte Cocktailwürstchen erwartet, mit dem die SPD auf sich aufmerksam macht. Im Foyer hat sich etwas verschüchtert eine Bürgerinitiative versammelt, die gegen eine Stromtrasse kämpft. Ein Kind steht auch unter dem Transparent. Steinbrück geht direkt auf die Menschen zu und erklärt ihnen, dass er nicht auf ihrer Seite sei: Eine Industrienation brauche Energie, und die müsse auch über Land geleitet werden können. Später in der Veranstaltung wird er es noch einmal ausführlicher darlegen. Der örtliche Kandidat führt die manchmal abgehobenen, manchmal auch schlicht ratlosen Debatten über die politische Lage, in der die Koalitionsoptionen ein Eigenleben entwickeln, auf handfeste Realitäten zurück und lobt die SPD für die Akquisition der Landesgartenschau und den Bau eines neuen Tunnels vor einigen Jahren. Steinbrück gleitet fast zu perfekt durch den Nachmittag. Der Saal ist gut gefüllt, auch mit Schülern oder Studierenden. Steinbrück segelt mühelos von Thema zu Thema, so locker, dass er ohne größere Umstände statt von Schwäbisch Gmünd von Schwäbisch Hall spricht, als würde ihn die Geschwindigkeit des Nachmittags, die Lust an der eigenen Performanz und Virtuosität aus der Kurve tragen. Man zuckt schon zusammen, wenn aus dem Publikum eine Frage kommt, die die Stimmung anheizen könnte, etwa: Was unterscheidet sie von Frau Merkel? Erleichterung, als er »der Anzug« antwortet. Später aber legt er noch mal nach: »Sie eckt nicht an, das ist bei mir etwas anders. Dafür bin ich nicht langweilig.«
Es ist ein Punkt, an dem ihm liegt, den er auch in kleiner Runde entwickelt hat: »Ich bin«, sagt er dann gerne, »besser als die Kanzlerin, wenn es darum geht, die Leute zu unterhalten, Reden zu halten, Zusammenhänge zu erklären.« Er findet es wichtig, nicht zu langweilen, nicht unbedingt um sich an sich selbst zu berauschen und auch nicht aus Pointen- oder Witzelsucht, sondern als eine Form der Höflichkeit. Wenn die Menschen schon gekommen sind, soll man sie zumindest auch amüsieren.
In jenen Tagen umrundete der Kandidat tausendmal die Säule mit dem einen Wasserglas und konnte den Eindruck haben, dass sich die Welt um ihn drehte oder, je nach Stimmung, dass er dazu verdammt sei, um die eigenen Achse zu laufen und die Fragen der Deutschen zu beantworten: Pflege, Rente, Verkehr. So wirkte er in der ARD -Wahlarena, der öffentlich-rechtlichen Version des amerikanischen Townhall-Formats, seltsam irritiert durch die Anwesenheit von zwei anderen Personen auf seinem runden Terrain, er zähmte nur mühsam seinen Impuls, direkt loszulaufen und alles zu umrunden. Die erste Frage war
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