Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
Augenblicke später sitze ich, eben noch der Eindringling, im Büro des Kanzlerkandidaten. Man merkt, dass er in den letzten Wochen nicht da war. In einer Ecke stapeln sich Kartons, auf dem Tisch liegen Mappen mit Briefen. Sein engster Kreis hat sich versammelt, alle halten die Köpfe gesenkt und streicheln ihre Smartphones. Der Blick aus dem Fenster ist noch trister: Verbaute Sicht mit trostlosen Wohnblocks, ein hellgrauer Sonntaghimmel. Auf der Straße hört man einen Autocorso mit viel Gehupe. Jemand vermutet, das sei vielleicht die Union? In der Hauptstadt kursierten die Zahlen seit 15 . 30 Uhr, sogennante
exit polls
, also Umfragen bei Wählern, die gerade ihre Stimme abgegeben hatten. Sie waren nicht gut. Steinbrück selbst fehlte in seinem Zimmer. »Der ist bei Sigmar«, sagte jemand, dann schwiegen wieder alle. Zu diesem frühen Zeitpunkt gab es noch die Möglichkeit, auf eine Dynamik der Resultate zu hoffen. Jemand hatte die Zahl von 29 Prozent aufgeschnappt, man sprach von einer steigenden Tendenz, aber sie blieb ein Gerücht. Nach kurzer Recherche wurde klar: Die 9 war bloß eine verdrehte 6 , ein Tippfehler. Eine fiese Erkenntnis kroch langsam unter dem Türspalt hindurch: Am Ende eines Jahres intensiven Wahlkampfs stand dieses Team, stand der Kandidat vor einem Desaster.
Wie einem Fluchtimpuls folgend, machte sich die kleine Truppe auf den Weg in das sechste und höchste Stockwerk des Willy-Brandt-Hauses. Dort befindet sich der einzig akzeptable Raum dieses absurden Gebäudes, die Vorstandsebene mit Glasdach und großen Fensterflächen. Hier standen noch mehr Gäste und Unterstützer herum und waren noch ratloser. Blieb die Hoffnung, dass das Ergebnis noch auf wenigstens ehrenrettende 28 Prozent kletterte. Klaus Staeck, der selbstverständlich auch bei diesem Abend wie bei so vielen Siegen und noch mehr Niederlagen dabei war, wusste es besser: »Im Laufe eines solchen Abends verlieren wir eher. Mal dazugewinnen, das gibt es nicht.« Er machte dazu die Miene, die Sisyphos gemacht haben muss, als er sah, wie der herabrollende Stein an Fahrt gewinnt. Die teuflische Tücke der Sache, der Fluch dieses Wahlkampfs waren aber mit dem schlechten Ergebnis noch nicht beendet. Es würde nicht nur das zweitschlechteste Ergebnis in der Geschichte der Sozialdemokratie sein, eingefahren in einem Jubiläumsjahr, es würde genau genommen sogar noch etwas schlimmer kommen.
Im großen Saal, in dem sich ansonsten der Parteivorstand versammelt, hatten sich das Kompetenzteam und die Familie Steinbrück zusammengefunden und sprachen dem Büffet zu. Gertrud Steinbrück hatte die Parole ausgegeben: »Essen hilft!« Sie konnte schon augenrollend vorbeten, welche Schwächen man ihrem Mann in endlosen Analysen attestieren würde, wie man im Nachhinein Gründe dafür finden würde, dass es schon immer absehbar war. Mit hochgezogenen Augenbrauen, geschockt von so viel Feindseligkeit, sprach sie über Artikel, die den Charakter ihres Mannes negativ schilderten, in denen sich die Journalisten gewissermaßen über ihn stellten und nicht seine politischen Vorschläge oder seine Auftritte kritisierten, sondern den Menschen.
Peer Steinbrück tat abermals, was er ein Jahr zuvor aus Günter Grass’ »Tagebuch einer Schnecke« vorgelesen und was ihm über das Jahr geholfen hatte, angesichts der sich unter seinen Füßen auftuenden Abgründe: Er bewegte sich vorwärts. Seine Frau bekam ihn nur einmal kurz zu fassen, sprach ihm Mut und Trost zu, dann folgte ihr Mann wieder seiner unsichtbaren Umlaufbahn. Es schien nicht so, als habe ihn das Ausmaß der Niederlage wirklich überrascht, er blieb auch in dieser Lage gefasst. Weder vergoss er Tränen, noch suchte er die Schuld bei anderen. Er behielt sich auch jetzt noch im Griff, kein Anflug von Depression. Vielleicht baut sich ein extrem hoher Adrenalinpegel, der über Wochen angestiegen ist, auch nur sehr langsam ab.
Die Analyse auf den Fluren war selbstkritisch und differenziert: Die schweren Fehler wurden ganz am Anfang des Wahlkampfs gemacht, in den allerersten Wochen. Dann brauchte man zu viel Zeit, um aus diesem Tal wieder herauszukommen, und machte dabei weitere Fehler. Schnell hatte sich ein ungünstiges Bild von Peer Steinbrück festgesetzt, es vergingen Monate, bis es revidiert werden konnte. Dann folgten die Auseinandersetzung mit dem Parteivorsitzenden und die Tränen auf offener Bühne. Erst sehr spät hatte sich der Wahlkampf stabilisiert.
Unterdessen war das Bild des
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