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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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wie ein Nieser. Endlich, nach so langen Jahren, hatte ich es getan.
    Zu Hause kam Andrew mir mit seiner üblichen Logik, um mir einen Dämpfer aufzusetzen. Vielleicht habe mein Opfer sein Benehmen völlig in Ordnung gefunden, weil alle um ihn herum sich genauso benahmen; es sei also gar nicht unmanierlich gewesen, sondern ein Versuch, sich manierlich zu verhalten – andere Länder, andere Sitten … Andererseits und außerdem wollte Andrew wissen, ob es nicht zutreffe, dass die Musik jener Zeit sehr oft für die Höfe von Königen und Herzögen komponiert worden sei, und ob diese Mäzene und ihr Gefolge etwa nicht he rumspaziert seien, sich am kalten Büfett gütlich getan, die Harfenistin mit Hühnerknochen beworfen, mit der Frau ihres Nachbarn geschäkert und nebenbei mit halbem Ohr zugehört hätten, wie ihr kleiner Angestellter auf das Spinett eindrosch? Aber die Musik sei nicht mit schlechtem Benehmen im Sinn komponiert worden, protestierte ich. Woher willst du das wissen, erwiderte Andrew: Diesen Komponisten war doch bestimmt klar, wie sich die Leute ihre Musik anhören würden, und darum schrieben sie entweder Musik, die so laut war, dass sie den Lärm von Hühnerknochen-Werfen und allgemeinem Gerülpse übertönen konnte, oder sie versuchten, was wahrscheinlicher ist, Melodien von derart betörender Schönheit zu komponieren, dass selbst ein lüsterner Baron vom Lande für einen Augenblick aufhören würde, das entblößte Fleisch der Apothekersfrau zu befummeln. War das nicht gerade die Herausforderung für sie – ja, vielleicht sogar der Grund, warum sich die daraus entstandene Musik so lange und gut hatte halten können? Schließlich und endlich war mein harmloser Nachbar mit dem Eckenkragen womöglich ein direkter Nachfahre jenes Barons vom Lande und benahm sich einfach nur so wie der: Er hatte sein Geld bezahlt und damit das Recht erworben, sich so viel oder so wenig anzuhören, wie er wollte.
    »In Wien«, sagte ich, »brauchte man noch vor zwanzig, dreißig Jahren in der Oper nur den leisesten Huster von sich zu geben, und schon kam ein Lakai in Kniehosen und gepuderter Perücke an und gab einem ein Hustenbonbon.«
    »Das hat die Leute bestimmt noch mehr abgelenkt.«
    »Beim nächsten Mal haben sie es dann bleiben lassen.«
    »Mir ist sowieso unbegreiflich, warum du überhaupt noch ins Konzert gehst.«
    »Meiner Gesundheit zuliebe, Herr Doktor.«
    »Es scheint aber das Gegenteil zu bewirken.«
    »Niemand kann mich daran hindern, ins Konzert zu gehen«, sagte ich. »Niemand.«
    »Darüber reden wir nicht mehr«, antwortete er und schaute weg.
    »Ich hab ja gar nicht darüber geredet.«
    »Gut.«
    Andrew meint, ich sollte zu Hause bleiben bei mei ner Stereoanlage, meiner CD-Sammlung und unseren toleranten Nachbarn, von denen man nur höchst selten ein Räuspern auf der anderen Seite der Brandmauer ver nimmt. Warum musst du unbedingt ins Konzert gehen, fragt er immer, wenn es dich nur wütend macht? Deshalb, erkläre ich ihm, weil man in einem Konzertsaal, nachdem man Geld bezahlt und sich eigens dorthin begeben hat, aufmerksamer zuhört. Was du mir erzählst, hört sich an ders an, antwortet er: Du bist anscheinend die meiste Zeit abgelenkt. Na ja, ich würde besser aufpassen, wenn ich nicht ständig abgelenkt würde. Und worauf würdest du besser aufpassen, rein theoretisch gefragt (merken Sie, wie provokant Andrew sein kann)? Darüber dachte ich eine Weile nach und sagte dann: auf die lauten Stellen und die leisen Stellen, wenn du’s genau wissen willst. Die lauten Stellen, weil eine Anlage technisch noch so perfekt sein kann – es ist doch kein Vergleich zu der Realität von hundert oder noch mehr Musikern, die da vorne mit voller Wucht loslegen und den ganzen Saal zum Dröhnen bringen. Und die leisen Stellen, was ein bisschen paradox ist, weil man annehmen würde, die kann jede Hi-Fi-Anlage anständig wiedergeben. Kann sie aber nicht. Diese ersten Takte des Larghettos zum Beispiel, die zwanzig, dreißig, fünfzig Meter weit durch den Raum schweben; allerdings ist schweben nicht der richtige Ausdruck, weil sich das anhört, als würde dabei Zeit vergehen, dabei ist jedes Zeitgefühl aufgehoben, wenn die Musik zu dir kommt, jedes Gefühl für Raum und Distanz übrigens auch.
    »Und wie war der Schostakowitsch? Laut genug, um die Schweinehunde zu übertönen?«
    »Also«, sagte ich, »das ist ein interessanter Punkt. Du weißt doch, dass die Vierte mit einem großen Fortissimo nach dem anderen

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