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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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war; sie haben das tatsächlich für eine freundliche Geste gehalten. Und dann wollte ich mir eines Abends diesen Jungen an der Bar vorknöpfen, ich legte ihm die Hand auf den Ellbogen, aber nicht fest genug, um jede Zweideutigkeit auszuschließen. Er drehte sich um, schwarzer Rollkragenpullover, Lederjacke, blonde Stachelhaare, breites, rechtschaffenes Gesicht. Vielleicht ein Schwede oder ein Däne, womöglich auch ein Finne. Er schaute sich an, was ich ihm hinhielt.
    »Meine Mutter hat immer gesagt, ich soll keine Süßigkeiten von freundlichen Herren annehmen«, sagte er lächelnd.
    »Sie haben gehustet«, antwortete ich lahm und schaffte es einfach nicht, wütend zu klingen.
    »Danke.« Er fasste das Bonbon am Papierfähnchen an und zog es mir sanft aus den Fingern. »Möchten Sie etwas trinken?«
    Nein, nein, ich möchte nichts trinken. Warum nicht? Aus dem Grund, über den wir nicht reden. Ich war auf einer Seitentreppe von Ebene 2 A . Andrew war pinkeln gegangen, und ich kam mit einem Jungen ins Gespräch. Ich hatte mich mit der Zeit verkalkuliert. Wir tauschten gerade unsere Telefonnummern aus, da drehte ich mich um und sah, wie Andrew uns beobachtete. Ich konnte ja schlecht so tun, als würde ich gerade einen Gebrauchtwa gen kaufen. Oder als wäre es das erste Mal. Oder als … na, egal. Zur zweiten Hälfte (Mahlers Vierte) gingen wir nicht wieder rein und machten uns stattdessen einen lan gen, ungemütlichen Abend. Und das war dann das letzte Mal, dass Andrew mit mir ins Konzert gegangen war. Er wollte auch nicht mehr mit mir ins Bett gehen. Er sagte, er werde mich (vielleicht) weiterhin lieben, (vielleicht) wei ter mit mir zusammenleben, aber er wolle mich nie wie der ficken. Und später sagte er noch, er wolle auch nichts, was nur annähernd etwas mit Ficken zu tun hätte, vielen Dank auch. Jetzt denken Sie vielleicht, dann würde ich zu dem lächelnden Schweden oder Finnen oder auch Dänen mit dem rechtschaffenen Gesicht doch sagen, Ja bitte, ich möchte gern etwas trinken. Aber da irren Sie sich. Nein, das möchte ich nicht, nein danke.
    Wie man’s macht, ist es verkehrt, nicht wahr? Und für die Musiker gilt das bestimmt auch. Wenn sie die wild gewordenen Bronchitiker einfach überhören, erweckt das womöglich den Eindruck, sie wären so in ihre Musik vertieft, dass diese Flegel ruhig nach Herzenslust weiterhusten können, sie merken es doch nicht. Aber wenn sie versuchen, ihre Autorität geltend zu machen … Ich habe erlebt, wie Brendel sich einmal mitten in einer Beethovensonate von der Tastatur weggedreht und wütend ungefähr in die Richtung des Übeltäters geguckt hat. Aber so ein Mistkerl nimmt die Zurechtweisung vielleicht gar nicht wahr, während alle anderen sich Sorgen machen, ob Brendel womöglich aus dem Konzept gekommen ist und so weiter.
    Ich hab mir also eine neue Taktik zurechtgelegt. Das mit den Hustenbonbons war wie eine zweideutige Geste von Radfahrer zu Autofahrer: Ja, herzlichen Dank, dass Sie plötzlich die Spur gewechselt haben, ich wollte sowie so grade eine Vollbremsung machen und einen Herzin farkt bekommen. Das brachte nichts. Vielleicht war es an der Zeit, ihnen ein bisschen aufs Dach zu schlagen.
    Dazu sollte ich wohl erklären, dass ich ziemlich kräftig gebaut bin: Zwanzig Jahre Training haben mir nicht geschadet; im Vergleich zu dem durchschnittlichen hühnerbrüstigen Konzertbesucher sehe ich aus wie ein Fernfahrer. Außerdem zog ich mir einen dunkelblauen Anzug aus dickem, festem Stoff an; weißes Hemd, dunkelblaue, ungemusterte Krawatte; und am Revers ein Abzeichen mit einem Wappen. Die Wirkung war durchaus beabsichtigt. Ein Missetäter konnte mich gut und gerne für einen offiziellen Ordner halten. Schließlich bin ich vom Parkett in das Seitenfoyer übergewechselt. Das liegt direkt neben dem Hauptsaal; von dort sieht man den Dirigenten und kann gleichzeitig das Parkett und die vordere Hälfte des ersten Rangs überwachen. Dieser Ordner teilte nun keine Hustenbonbons aus. Dieser Ordner wartete bis zur Pause und verfolgte dann den Störer – so ostentativ wie möglich – bis in die Bar oder in einen dieser uniformen Bereiche mit Panoramablick auf die Skyline an der Themse.
    »Entschuldigung, Sir, kennen Sie den Geräuschpegel von ungedämpftem Husten?«
    Dann schauten sie mich einigermaßen nervös an, weil ich bewusst mit ebenso ungedämpfter Stimme sprach. »Er wird auf ungefähr 85 Dezibel angesetzt«, fuhr ich fort. »Etwa so hoch wie ein Fortissimo-Ton auf

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