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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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»Der glücklichste Moment meines Lebens ist natürlich der Moment der Liebe. Es ist der Moment, in dem man dem Blick der geliebten Frau begegnet und spürt, dass sie einen gleichfalls liebt. Das habe ich einmal, vielleicht zweimal erlebt.« Tolstoi ärgerte sich über diese Antwort.
    Später, als die jungen Leute unbedingt tanzen wollten, führte er das Neueste aus Paris vor. Er zog das Jackett aus, steckte die Daumen in die Ärmelausschnitte der Weste und hüpfte herum, warf die Beine hoch, wackelte mit dem Kopf, dass seine weißen Haare flatterten, und das ganze Haus klatschte und jubelte; er keuchte, hüpfte, keuchte, hüpfte, dann fiel er hin und sank in einem Sessel zusammen. Es war ein Riesenerfolg. Tolstoi schrieb in sein Tagebuch: »Turgenew tanzt Cancan. Traurig.«
    »Einmal, vielleicht zweimal.« War sie das »vielleicht zweimal«? Vielleicht. In seinem vorletzten Brief küsst er ihr die Hände. In seinem letzten, mit versagendem Stift geschriebenen Brief trägt er ihr keine Küsse an. Stattdessen schreibt er: »Ich schwanke nie in meinen Gefühlen – und ich werde für Sie stets genau dasselbe empfinden bis zum Ende.«
    Dieses Ende kam sechs Monate später. Der Gipsabdruck ihrer Hand ist heute im Theatermuseum von Sankt Petersburg ausgestellt, der Stadt, in der er zum ersten Mal das Original küsste.

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WACHDIENST
    Das Ganze hat damit angefangen, dass ich dem Deutschen einen Stoß versetzte. Na gut, vielleicht war er auch Österreicher – es gab schließlich Mozart –, und eigentlich hat es nicht damit angefangen, sondern schon Jahre vorher. Trotzdem, man gibt am besten immer ein genaues Datum an, finden Sie nicht auch?
    Also: ein Donnerstag im November, Royal Festival Hall, 19 Uhr 30, Mozart KV 595 mit Andras Schiff, danach die Vierte von Schostakowitsch. Ich weiß noch, dass ich auf dem Hinweg dachte, der Schostakowitsch hat mit die lautesten Passagen der Musikgeschichte, da dringt bestimmt kein anderes Geräusch durch. Aber ich greife vor. 19 Uhr 29: volles Haus, normales Publikum. Zu guter Letzt spazieren auch die Leute von einem Sponsoren-Umtrunk im Erdgeschoss rein. Sie kennen den Typ – ach, ist ja gleich halb, aber wir trinken erst noch aus, gehen pinkeln, dann in aller Ruhe nach oben, und dort drängeln wir uns an einem halben Dutzend anderer Leute vorbei zu unseren Plätzen durch. Nur keine Eile, mein Freund: Der Boss hat sich das was kosten lassen, da kann Maestro Haitink ruhig noch etwas länger in seiner Garderobe ausharren.
    Der Österreich-Deutsche war – das muss ich ihm las sen – immerhin schon um 19 Uhr 23 da. Ziemlich klein, ziemlich glatzköpfig, Brille, so eine Art Stehkragen und rote Fliege. Nicht gerade Abendgarderobe; vielleicht eine typische Ausgehkluft von da, wo er herkam. Und er machte sich ganz schön wichtig, fand ich, schon weil er zwei Frauen im Schlepptau hatte, an jeder Seite eine. Alle waren so Mitte dreißig, würde ich meinen: In dem Alter sollte man eigentlich wissen, was sich gehört. »Das sind gute Plätze«, verkündete er, als sie sich vor mir niederließen. J 37, 38 und 39. Ich hatte K 37. Er war mir auf Anhieb unsympathisch. Wie der sich vor seinen Begleiterinnen selbst für die Karten lobte, die er gekauft hatte. Sicher, er könnte sie auch über eine Agentur bekommen haben und war jetzt bloß erleichtert; aber so hörte er sich nicht an. Und warum soll ich ihm mildernde Umstände zubilligen?
    Das Publikum war, wie gesagt, ganz normal. Achtzig Prozent Freigänger aus Londoner Krankenhäusern mit besonderen Kartenkontingenten für Lungenstationen und HNO-Kliniken. Frühbucherrabatt für Patienten mit einem Husten von mehr als 95 Dezibel. Wenigstens furzt im Konzert keiner. Jedenfalls hab ich noch nie einen furzen hören. Sie? Ja, das glaube ich auch. Womit ich schon halbwegs beim Thema bin: Wenn man es an einem Ende unterdrücken kann, wieso nicht auch am anderen? Meiner Erfahrung nach ist die Vorwarnzeit etwa gleich lang. Aber im Allgemeinen furzen die Leute bei Mozart nicht einfach drauflos. Ich vermute also, hier wirken noch ein paar kümmerliche Reste der dünnen Kulturkruste, die unseren Verfall in die tiefste Barbarei verhindert.
    Das Allegro am Anfang lief einigermaßen glatt: ein paar Nieser, ein schwerer Fall von hartnäckiger Verschleimung im ersten Rang Mitte, der fast einen chirurgischen Eingriff erforderlich machte, eine Digitaluhr und reichlich Programmgeraschel. Manchmal denk ich, man sollte vorne auf dem Programm eine

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