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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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eine Schnee-Eule, das würde die Macht des absichtsvollen Zufalls auf die Probe stellen. Das ist mir zu heikel, aber ich will Ihnen sagen, dass wir damals ’16 in Putney gewohnt haben. Putney liegt direkt neben Barnes.
    Nun, herzlichen Dank, dass Sie mir geschrieben haben. Jetzt geht’s mir schon besser & der Mond kommt hinter den Kiefern hervor.
    Sylvia W.
Papagei D. wieder im Fenster.
    16. September 1986
    Lieber Julian,
    Ihr Roman war wirklich lehrreich, nicht wegen der Sexstellen, sondern weil Ihre Figur Barbara genau dieselben aalglatten Diskussionsweisen hat wie unsere Heimleiterin hier. Ihr Mann ist mir gegenüber der Gipfel der Unverschämtheit, aber ich weiß, wenn mir das Wort »verdammt« entschlüpft, bin ich beim Direktorium endgültig unten durch, das mir bislang noch gewogen ist. Gestern war ich auf dem Weg zum Briefkasten, da quatschte mich der Sgt-Major an und meinte, den Weg könne ich mir sparen. Alle Tauben und Verrückten hier geben ihm ihre Briefe, damit er sie für sie einwirft. Ich sagte: »Ich fahr zwar nicht mehr selbst Auto, aber ich werde weiterhin den Bus in die Stadt nehmen und bin durchaus in der Lage, zum Briefkasten zu humpeln.« Er sah mich impertinent an, und ich stellte mir vor, wie er nachts sämtliche Briefe über Wasserdampf aufmacht und alle zerreißt, in denen sich jemand über die Altenlagerstätte beschwert. Wenn meine Briefe plötzlich aufhören, können Sie daraus schließen, dass ich entweder tot bin oder ganz und gar unter Kuratel der Behörden stehe.
    Sind Sie musikalisch? Also ich ja, glaube ich, ein biss chen jedenfalls, aber nur weil ich intelligent war und mit sechs angefangen habe, Klavier zu spielen, konnte ich sehr bald gut vom Blatt spielen, ich spielte auch Kon trabass & Flöte (mehr oder weniger) und sollte darum immer Kirchenorgeln spielen. Das gefiel mir, einen gran diosen Lärm auf diesen Instrumenten zu machen. (Selbst nicht kirchlich. Ich denke meine eigenen Gedanken.) Ich fahre gern in die Stadt – immer fröhliche Scherze im Bus oder Moriskentanz im Einkaufsviertel mit Branden burgischen Konzerten aus einem Apparat und richtigen Menschen, die dazu Geige spielen.
    Ich habe noch mehr As und Bs gelesen. Irgendwann rechne ich mal zusammen, wie viel Alkohol getrunken wird und wie viele Zigaretten angezündet werden, um einen Roman aufzublähen. Ebenso »vignettes« von Kellnern, Taxifahrern, vendeuses und anderen, die in der Geschichte weiter keine Rolle spielen. Die einen Romanautoren blähen ihre Geschichten auf, die anderen haben einen Hang zum Philosophieren, und man hat uns beigebracht, das chez Balzac als »Verallgemeinerung« zu betrachten. Für wen ist so ein Roman eigentlich da, frage ich mich. In meinem Fall für ein anspruchsloses Wesen mit dem Bedürfnis, zwischen 22 Uhr und Schlafenszeit alles andere zu vergessen. Das ist vielleicht nicht sehr befriedigend, für Sie, das sehe ich ein. Außerdem brauche ich dazu unbedingt eine Figur, die mir so ähnlich ist, dass ich mich mit ihr identifizieren kann, und da ich nun mal meinen eigenen Kopf habe, kommt das nicht oft vor.
    Trotzdem, die As und Bs sind um Klassen besser als das, was uns das Rote Kreuz jeden Monat liefert. Das wird anscheinend in den langen Stunden, in denen es sonst nichts zu tun gibt, von Nachtschwestern verfasst. Und es geht einzig und allein darum, dass alle heiraten wollen. Was nach der Hochzeit passiert, scheint denen noch nicht aufgegangen zu sein, für mich liegt da aber die wahre Krux.
    Ein in Kunstkreisen berühmter Mann schrieb vor ein paar Jahren in seiner Autobiographie, er habe die Liebe zu den Frauen entdeckt, als er sich auf dem Schulball in ein kleines Mädchen verliebte. Damals war er elf und sie neun. Es steht außer Zweifel, dass ich dieses kleine Mädchen war: Er beschreibt mein Kleid, und es war die Privatschule meines Bruders, die Daten stimmen etc.
    Seitdem hat sich niemand mehr in mich verguckt, aber ich war ein hübsches Kind. Wenn ich ihn eines Blickes gewürdigt hätte, schreibt er, wäre er mir bis an sein Lebensende gefolgt. Stattdessen ist er sein Leben lang den Weibern nachgerannt und hat seine Frau so unglücklich gemacht, dass sie dem Alkohol verfiel, wohingegen ich nie geheiratet habe. Was schließen Sie daraus, Mister Romanautor Barnes? War das eine verpasste Gelegenheit vor siebzig Jahren? Oder sind wir, er und ich, noch einmal glücklich davongekommen? Er konnte ja nicht ahnen, dass ich ein Blaustrumpf werden würde und überhaupt nicht nach

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