Der Zitronentisch
wie der Mond langsam zwischen den Kiefern herumwandert, und denke an die Vorteile des Sterbens. Nicht, dass man uns die Wahl ließe. Doch, ja, man kann sich selbst umbringen, aber das schien mir schon immer vulgär und wichtigtuerisch, wie wenn Leute im Theater oder bei einem Symphoniekonzert rausgehen. Was ich damit sagen will – na, Sie wissen schon, was ich sagen will.
Hauptgründe zu sterben: Wenn man in meinem Alter ist, wird das allgemein erwartet; drohende Altersschwäche und Senilität; reine Geldverschwendung – frisst das Erbe auf –, ein hirntotes, inkontinentes altes Klappergestell in Schuss zu halten; nachlassendes Interesse an den Nachrichten des Tages, Hungersnöten, Kriegen etc.; Angst, irgendwann völlig dem Sgt-Major ausgeliefert zu sein; Wunsch zu wissen, was danach kommt (oder nicht?).
Hauptgründe nicht zu sterben: Hab noch nie gemacht, was andere von mir erwarten, also warum jetzt damit anfangen; Kummer, den man evtl. anderen bereitet (aber wenn, dann unvermeidlich, egal wann); immer noch erst bei B in Leihbücherei; wer bringt den Sgt-Major in Rage, wenn nicht ich?
-sonst fällt mir nichts mehr ein. Können Sie mir andere Gründe nennen? Ich finde, es spricht immer mehr dafür als dagegen.
Letzte Woche wurde eine der Verrückten splitterfasernackt hinten im Garten entdeckt, mit einem Koffer voller Zeitungen, wartete offenbar auf den Zug. Selbstverständlich sind bei der Altenlagerstätte weit und breit keine Züge, Lord Beeching hat ja die Nebenstrecken geschlossen.
Nun, nochmals vielen Dank, dass Sie mir geschrieben haben. Verzeihen Sie Epistolomanie.
Sylvia
P.S. Warum hab ich Ihnen das erzählt? Mit der Geschichte von Daphne wollte ich sagen, dass sie immer nach vorn geschaut hat, fast nie zurück. Das scheint Ihnen vielleicht keine große Leistung zu sein, aber ich verspreche Ihnen, es wird schwieriger.
5. Oktober 1987
Lieber Julian,
meinen Sie nicht, dass die Sprache der Kommunikation dienen soll? In meiner ersten Schule durfte ich während der Ausbildung (zur Lehrerin) nicht unterrichten, nur beim Unterricht zuhören, weil ich das tu im Passé simple falsch machte. Hätte man mir jemals Grammatik beigebracht, im Gegensatz zu Französischkenntnissen, hätte ich einwenden können, dass niemand jemals »Lui écrivis-tu?« oder dergleichen sagen würde. In meiner »Schule« lernten wir vor allem Redewendungen, ohne die Zeiten zu analysieren. Ich bekomme ständig Briefe von einer Französin mit normaler höherer Schulbildung, die fröhlich und unbekümmert »J’etait« oder »Elle s’est blessait« schreibt. Aber meine Chefin, die mich entlassen hat, sprach das französische R mit dem grässlichen erstickten Laut aus, der im Englischen üblich ist. Zum Glück ist das jetzt alles viel besser geworden, und wir sprechen »Paris« nicht mehr so aus, dass es sich auf »Mary« reimt.
Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich mit meinen langen Briefen in senile Geschwätzigkeit verfalle. Der springen de Punkt, Mister Romanautor Barnes, ist, dass Franzö sischkenntnisse etwas anderes sind als Grammatik, und dass das für alle Lebensbereiche gilt. Ich finde den Brief nicht mehr, in dem Sie mir von der Begegnung mit ei nem Schriftsteller erzählen, der noch antiquierter ist als ich (Gerrady? Rechtschreibung korrekt? – ich habe ihn in der Bibliothek gesucht, aber nicht gefunden und liege bestimmt sowieso schon unter der Erde, bevor ich bei den Gs angekommen bin). Soweit ich mich erinnere, hat er gefragt, ob Sie an ein Weiterleben nach dem Tod glaubten, und Sie haben nein gesagt, und er hat erwidert: »Wenn Sie mal so alt sind wie ich, tun Sie’s vielleicht doch.« Ich sag ja nicht, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, aber eins weiß ich genau, mit dreißig oder vierzig mag man die Grammatik aus dem Effeff beherrschen, aber wenn man dann taub oder verrückt ist, muss man auch Französisch kenntnisse haben. (Verstehen Sie, was ich meine?)
Oh! oh! oh! Was gäbe ich für ein richtiges croissant! Französisches Brot wird aber aus französischem Mehl gemacht. Haben die das in Ihrem Teil der Welt? Gestern Abend gab es bei uns durchgedrehtes Fleisch aus der Dose mit Kartoffeln und gebackenen Bohnen; ich wünschte, ich hätte nicht so viel Freude an gutem Essen. Manchmal träume ich von Aprikosen. Man kann hierzulande keine Aprikosen kaufen, die schmecken alle wie mit künstlichem Orangensaft getränkte Watte. Nach entsetzlicher Szene mit Sgt-Major hab ich das Mittagessen geschwänzt und mir in
Weitere Kostenlose Bücher