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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Ort. Hirsch taucht auf. Dito bei anderer Gelegenheit Eisvogel und Buntspecht. Ich kann einfach nicht glauben, dass das pure Einbildung ist oder dass meinem Unterbewusstsein klar war, dass diese Tiere da irgendwo in den Kulissen rumschleichen. Sieht ganz danach aus, als ob es sozusagen ein übergeordne tes Ich gibt, das beispielsweise einem unverständigen ro ten Blutkörperchen sagt, nun mach mal und bilde einen Klumpen über der Schnittwunde. Aber was führt dann die Aufsicht über Ihr übergeordnetes Ich und mein überge ordnetes Ich und bringt unserem Blut bei, die Wunden zu schließen? In »Hospital Watch« fiel mir auf, dass sie das rohe Fleisch einfach wieder in das Loch stopfen, und dann kann es zusehen, wie es sich selbst in Muskeln zurückver wandelt, und vor drei Monaten hatte ich eine sehr schwere Operation, aber anscheinend sind alle Teile wieder in der richtigen Form zusammengewachsen und wussten, was sie zu tun hatten. Wer hat denen das gezeigt?
    Ist hier noch Platz für ein paar Papageienfedern? Die Rektorin, Miss Thurston, war eine wenig anziehende Frau mit Pferdegesicht, 24 Jahre älter als ich, »assoiffée de beauté«, und trug unpassende breite Hüte mit Federschmuck beim Radfahren (im Cambridge-Stil, mit Korb hintendrauf). Eine Weile standen wir uns sehr nahe und schmiedeten Pläne, zusammen in ein Haus zu ziehen, aber sie entdeckte noch rechtzeitig, wie abscheulich ich bin. Eines Nachts träumte ich von Miss Thurston: Sie tanzte vor Freude; sie trug einen riesigen Hut, an dem Papageienfedern flatterten. Sie sagte: »Jetzt ist zwischen uns alles gut« (oder etwas in der Art). Ich dachte mir: »Aber diese Frau war nie REIZLOS.« Beim Frühstück sage ich zu meiner Kusine: »Miss Thurston ist bestimmt tot.« Wir schauen im Telegraph nach – kein Nachruf, wie eigentlich zu erwarten. Die Post kommt – hinten auf einem Briefumschlag: »As-tu vu que Miss Thurston est morte?« Wir besuchen eine andere Kusine; Nachruf und Foto in der Times. Ich muss hinzufügen, dass ich ganz und gar nicht »übersinnlich« veranlagt bin.
    Ich will gar nicht erst behaupten, ich hätte nicht solche Predigten halten wollen. Ich bin hier Seniorensprecherin als die JÜNGSTE und Kompetenteste. Hab ein Auto, kann fahren. Da die meisten stocktaub sind, gibt es wenig Getuschel in Winkeln und Ecken. Darf ich ein hochtrabendes Wort für unmäßiges Briefeschreiben prägen (Epistolomanie?)? Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung.
    Herzliche Grüße, viel Glück für Ihre Arbeit,
Sylvia Winstanley
    18. April 1986
    Lieber Julian,
    ich nenne Sie so mit Ihrer Erlaubnis und nachdem ich Flirtgenehmigung erhalten habe; es ist allerdings eine ganz neue Erfahrung, wenn man sich beim Flirten nur an einen Schutzumschlag halten kann, wie Sie sich vielleicht denken können. Was nun die Frage betrifft, warum ich mich in einer Altenlagerstätte einsperren lasse, wo ich doch laufen und fahren kann und die Drohung mit dem Gericht mich erheitert – das war ein Fall von Jeder ist seines Unglücks Schmied oder sauter pour mieux reculer. Meine liebe Kusine war gestorben, mir drohte eine größere Operation, und ich fand die Aussicht, meine eigene Haushälterin zu sein, bis ich ins Gras beiße, nicht sehr verlockend. Und dann wurde, wie es so schön heißt, unerwartet ein Platz frei. Ich habe meinen eigenen Kopf, wie Sie sicher schon erraten haben, und lasse mich nicht von der herrschenden Meinung herumkommandieren. Die h. M. besagt, wir haben alle so lange wie möglich selbständig zu bleiben und uns erst in eine Altenlagerstätte zu verdrücken, wenn unsere Familie uns nicht mehr ertragen kann oder wir anfangen, den Gashahn offen zu lassen und uns mit unserer Ovomaltine zu verbrühen. Unter diesen Umständen kann die Altenlgst. aber einen schweren Schock auslösen, sodass wir einen Stich in der Birne kriegen und zu Kohlköpfen mutieren, und schon wird wieder unerwartet ein Platz frei. Daher beschloss ich, mich hierher zu begeben, solange ich im Großen und Ganzen noch funktioniere. Nun, ich habe keine Kinder, und meine Psychologin war auch dafür.
    Tja, lieber Barnes, wie das Schicksal so spielt! Das ein zige Ihrer Bücher, von dem Sie mir abgeraten haben, war auch das einzige, das ich in der Bibliothek bekommen konnte. »Als sie mich noch nicht kannte« ist seit Januar 11-mal ausgeliehen worden, was Sie sicher mit größtem Interesse vernehmen, und ein Leser hat das Wort »fuck« jedes Mal dick durchgestrichen, wenn es im Text auf tauchte.

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