Der Zitronentisch
der Stadt ein Sandwich und einen Eisbecher mit Früchten genehmigt.
Sie schreiben, Sie haben keine Angst vor dem Sterben, es darf nur nicht dazu führen, dass Sie am Ende tot sind. Das hört sich für mich kasuistisch an. Und überhaupt, vielleicht merken Sie den Übergang gar nicht. Bei meiner Freundin Daphne Charteris hat sich das Sterben lange hingezogen. »Bin ich schon tot?«, hat sie immer gefragt, manchmal auch: »Wie lange bin ich schon tot?« Ihre allerletzten Worte waren: »Jetzt bin ich schon eine Weile tot. Ich kann keinen Unterschied feststellen.«
Hier kann ich mit niemandem über den Tod reden. Das ist nämlich morbide und wird nicht gern gesehen. Es macht keinem was aus, über Gespensterchen und Poltergeister und dergleichen zu reden, aber wenn ich auf das eigentliche Thema zu sprechen komme, sagen Heimleiterin & Sgt-Major gleich, ich soll nicht die Pferde scheu machen. Gehört alles zu meinem Kampf gegen die Tabuisierung des Todes – oder der Angst davor – als Gesprächsthema und gegen die Energie, mit der die Ärzteschaft die Sterbenden am Sterben hindern will, hirn los geborene Babys am Leben hält & dafür sorgt, dass unfruchtbare Frauen künstliche Kinder kriegen. »Wir versuchen seit sechs Jahren, ein Kind zu bekommen« – Na schön, dann habt ihr eben keins. Neulich hatten wir abends alle zweidottrige Eier – »Warum? Ist doch ko misch.« »Die geben den Hennen Fruchtbarkeitspillen, damit sie früher legen.«
Sie fragen, was ich in meinem Kühlschrank habe? Mein Portemonnaie, wenn Sie es genau wissen wollen, mein Adressbuch, meine Korrespondenz und eine Kopie meines Testaments. (Falls es mal brennt.)
Ist die Familie noch zusammen? Ihre? Noch mehr Kinder vielleicht? Ich merke schon, Sie sind auch so ein moderner Vater, und Sie machen das gut. George V. hat seine Kinder gebadet, Q. Mary nicht.
Herzl. Grüße & succès fou,
Sylvia
14. Oktober 1987
Merci, charmant Monsieur, für das Fresspaket. Leider-leider hat das Zusammenwirken von Post & Sgt-Major dazu geführt, dass die croissants nicht mehr so frisch waren, wie sie Sie verlassen haben. Ich ließ es mir nicht nehmen, diese Liebesgaben gerecht zu verteilen, und so haben alle Tauben und Verrückten je ein halbes bekommen. »Tschulligung? Tschulligung? Wasndas? Wasndas?« Denen sind schlabberige Dreicke von weißem Toastbrot mit Orangenmarmelade lieber. Was meinen Sie: Wenn ich die Reste für Dominic – noch im Fenster – durch den Briefschlitz schiebe, bekomme ich dann Hausarrest von der Heimleiterin? Sorry, nur Postkarte, schlimmer Arm.
Herzliche Grüße, Sylvia
10. Dezember 1987
Barnes steht etwa in Brusthöhe, für Brookner muss man auf den Boden runter. Ich finde, ihr »Seht mich an« ist ein herrliches Werk tragischer Literatur, anders als »König Lear«, den ich grade zum 1. Mal gelesen habe. Von ein paar Glanzstellen abgesehen, sind Handlung und Personenzeichnung völliger Quatsch. Das Paradigma (Wort eben beim Kreuzworträtsel gelernt) von des Kaisers neuen Kleidern. Nur Postkarte – der Arm.
Herzl. Grüße, Sylvia
14. Januar 1989
Lieber Julian,
(Ja! Die alte Winstanley), bitte verzeihen Sie noch mehr senile Geschwätzigkeit. Auch Zustand der Handschrift, der Nanny mit Scham erfüllen würde.
Faszinierender Film im Fernsehen über Löwenbabys, die porc-épic fressen wollen (warum épic? – Im Larousse steht, eine verderbte Form von porcospino, das war ja klar, aber warum nicht épine statt épic?). Ich mach mir eigentlich nichts aus Igeln – vor meinem Cottage war ein Viehrost, in den ständig Igel fielen. Meiner Erfahrung nach war es das Einfachste, sie mit der Hand rauszuholen, aber sie sind voller Ungeziefer und haben ausdruckslose Augen, ziemlich gemein.
Wie töricht und senil von mir, immer von Ihren Kindern zu reden, wenn Sie sagen, Sie haben keine. Bitte um Verzeihg. Natürlich denken Sie sich in Ihren Geschichten was aus.
Da ich vierundachtzig bin und noch ein hervorragendes Gedächtnis habe, weiß ich, dass zwangsläufig Zufälle eintreten, z. B. Papageien, französische Gelehrte etc. Aber andererseits der berühmte Mann aus Kunstkreisen. Und vor einem Monat habe ich erfahren, dass meine Großnichte Hortense Barret auf die Universität gehen und Agrarwissenschaft studieren will. (Zu meiner Zeit gab es Forstwirtschaft. Hatten Sie Förster? Ernsthafte junge Männer mit Lederflecken am Ellenbogen, die in Siedlungen an der Parks Road wohnten und alle miteinander zur Arbeit im Gelände auszogen?) Und in
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