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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Vielleicht war bei beiden Häusern derselbe Bauunternehmer am Werk gewesen. Vielleicht sind alle Bungalows mehr oder weniger gleich. Ich kenne mich da nicht aus.
    Sie setzte sich in einen niedrigen schwarzen Ledersessel und zündete sich umgehend eine Zigarette an. »Ich warne Sie, für Moralpredigten bin ich zu alt.« Sie trug einen braunen Rock, eine cremefarbene Bluse und große, protzige Ohrringe in Form von Schneckenhäusern. Ich war ihr vorher zweimal begegnet und hatte sie ziemlich langweilig gefunden. Sie mich zweifellos auch. Jetzt saß ich ihr gegenüber, lehnte eine Zigarette ab und versuchte, in ihr eine Verführerin zu sehen, die Zerstörerin eines trauten Heims, eine Femme fatale vom Dorf, doch stattdessen sah ich eine Frau Mitte sechzig vor mir, rundlich, leicht nervös, mehr als nur leicht feindselig. Keine Verführerin – und auch keine jüngere Ausgabe meiner Mutter.
    »Ich bin nicht hier, um Ihnen Moralpredigten zu halten. Ich glaube, ich versuche wohl eher, das Ganze zu verstehen.«
    »Was gibt es da zu verstehen? Ihr Vater will mit mir zusammenleben.« Sie zog ärgerlich an ihrer Zigarette und ließ sie dann mit einer heftigen Bewegung sinken. »Wenn er nicht so ein netter Mensch wäre, wäre er jetzt schon hier. Er meinte, er müsste Ihnen allen Zeit lassen, sich an die Umstellung zu gewöhnen.«
    »Meine Eltern sind schon sehr lange verheiratet«, sagte ich so neutral, wie es nur ging.
    »Man gibt nur auf, was man nicht mehr will«, sagte Elsie schroff. Wieder zog sie kurz an der Zigarette und sah sie fast vorwurfsvoll an. Ihr Aschenbecher wurde von einem Lederband mit Gewichten an den Enden auf der Sessellehne gehalten. Ich wollte, dass er von Kippen überquoll, die mit verruchtem scharlachroten Lippenstift beschmiert waren. Ich wollte scharlachrote Fingernägel und scharlachrote Fußnägel sehen. Aber nein. Am linken Knöchel trug sie einen Stützstrumpf. Was wusste ich eigentlich von ihr? Dass sie für ihre Eltern gesorgt hatte, für Jim Royce gesorgt hatte und jetzt beabsichtigte – so nahm ich jedenfalls an –, für meinen Vater zu sorgen. In ihrem Wohnzimmer gab es zahlreiche Usambaraveilchen in Joghurttöpfen, haufenweise aufgeschüttelte Kissen, etliche Plüschtiere, einen Fernsehapparat mit Hausbar, einen Stapel Gartenbauzeitschriften, eine Ansammlung von Familienfotos, einen eingebauten elektrischen Kamin. Nichts davon wäre im Haus meiner Eltern fehl am Platz gewesen.
    «Usambaraveilchen«, sagte ich.
    »Danke.« Sie schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte, das ihr einen Anlass geben würde, mich anzugreifen. Ich blieb stumm, was auch nichts änderte. »Sie sollte ihn lieber nicht schlagen, ja?«
    »Was?«
    »Sie sollte ihn lieber nicht schlagen, ja? Nicht, wenn sie möchte, dass er bei ihr bleibt.«
    »Machen Sie sich nicht lächerlich.«
    »Bratpfanne. Oben am Kopf. Vor sechs Jahren, nicht wahr? Jim hatte schon immer so einen Verdacht. Und ziemlich oft in letzter Zeit. Nicht da, wo man es sieht, das hat sie inzwischen begriffen. Sie schlägt ihn auf den Rücken. Altersdemenz, wenn Sie mich fragen. Gehört eigentlich in eine Anstalt.«
    »Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »Na, sie bestimmt nicht.« Elsie funkelte mich an und zündete sich eine neue Zigarette an.
    »Meine Mutter …«
    »Glauben Sie doch, was Sie wollen.« Einschmeicheln wollte sie sich jedenfalls nicht bei mir. Warum sollte sie auch? Dies war ja kein Vorstellungsgespräch. Als sie mich zur Tür brachte, wollte ich ihr automatisch die Hand geben. Sie drückte sie kurz und wiederholte: »Man gibt nur auf, was man nicht mehr will.«
    Ich fragte meine Mutter: »Mum, hast du Dad mal geschlagen?«
    Sie erriet sofort, wer meine Informationsquelle war. »Hat dieses Weibsbild das behauptet? Du kannst ihr von mir ausrichten, wir sehen uns vor Gericht wieder. Man sollte sie … teeren und federn oder was man mit solchen Leuten macht.«
    Ich fragte meinen Vater: »Dad, vielleicht ist das eine dumme Frage, aber hat Mum dich mal geschlagen?«
    Sein Blick blieb klar und direkt. »Ich bin gestürzt, mein Sohn.«
    Ich ging ins Ärztehaus und sah mich einer energischen Frau im Dirndlrock gegenüber, die einen leisen Gestank nach ehernen Prinzipien verbreitete. Als sie hier anfing, war Dr. Royce bereits nicht mehr da. Patientenunterlagen waren selbstverständlich vertraulich, falls ein Verdacht auf Misshandlung bestand, sei sie verpflichtet, das Sozialamt einzuschalten, mein Vater hatte vor sechs Jahren angegeben, er sei

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