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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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ging es nicht um ein Testament oder eine Vollmacht oder ein Pflegeheim.
    Meine Mutter war in dem angespannten Zustand, den eine Krise mit sich bringt: eine Mischung aus ängstlichem Überschwang und einer dahinter verborgenen Erschöpfung, und eins schaukelt das andere hoch. »Er will keine Vernunft annehmen. Er lässt sich überhaupt nichts sagen. Ich schneide inzwischen mal die Johannisbeersträucher.«
    Mein Vater stand rasch aus seinem Sessel auf. Wir gaben uns die Hand, wie immer. »Ich bin froh, dass du da bist«, sagte er. »Deine Mutter will keine Vernunft annehmen.«
    »Ich bin nicht die Stimme der Vernunft«, sagte ich. »Du darfst also nicht zu viel erwarten.«
    »Ich erwarte gar nichts. Ich freu mich nur, dass du da bist.« Diese seltene Äußerung unverhohlener Freude vonseiten meines Vaters machte mir Angst. Ebenso die Art, wie er selbstbewusst in seinem Sessel saß; normalerweise saß er so schräg oder verquer wie sein Blick und seine Denkweise. »Deine Mutter und ich trennen uns. Ich ziehe mit Elsie zusammen. Wir teilen die Möbel auf und das Bankguthaben auch. Sie kann, so lange sie will, in diesem Haus wohnen bleiben, das ich – wie ich gestehen muss – nie sonderlich mochte. Natürlich gehört es zur Hälfte mir; wenn sie ausziehen will, muss sie sich also etwas Kleineres suchen. Wenn sie einen Führerschein hätte, könnte sie auch das Auto haben, aber diese Möglichkeit ist wohl nicht sehr realistisch.«
    »Dad, wie lange geht das schon?«
    Er sah mich an, ohne mit der Wimper zu zucken oder rot zu werden, und schüttelte leicht den Kopf. »Tut mir Leid, das geht dich nichts an.«
    »Natürlich geht es mich etwas an, Dad. Ich bin dein Sohn.«
    »Das stimmt. Vielleicht fragst du dich, ob ich ein neues Testament aufsetzen will. Das habe ich nicht vor. Im Augenblick jedenfalls nicht. Ich ziehe mit Elsie zusammen, weiter nichts. Ich will mich nicht von deiner Mutter scheiden lassen oder dergleichen. Ich ziehe einfach mit Elsie zusammen.« Die Art, wie er ihren Namen aussprach, verriet mir, dass meine Aufgabe – jedenfalls die Aufgabe, die meine Mutter mir zugedacht hatte – nicht gelingen würde. Da war kein schuldbewusstes Zögern und kein falscher Nachdruck, wenn er ihren Namen nannte; »Elsie« hatte einen Klang von gediegener Körperlichkeit.
    »Was soll Mum ohne dich anfangen?«
    »Ihren eigenen Weg gehen.« Das sagte er nicht barsch, nur mit einer gewissen Schärfe, als habe er sich das alles bereits überlegt, und andere würden ihm zustimmen, wenn sie nur richtig darüber nachdächten. »Sie kann ihre eigene Regierung sein.«
    Mein Vater hatte mich noch nie schockiert, mit einer Ausnahme: Ich hatte aus dem Fenster beobachtet, wie er einer Amsel den Hals umdrehte, die er im Obstbaumkäfig gefangen hatte. Es war deutlich zu erkennen, dass er dabei fluchte. Dann hatte er den Vogel mit den Füßen an das Drahtgeflecht gebunden und dort kopfüber baumeln lassen, um andere Plünderer abzuschrecken.
    Wir redeten noch eine Weile. Besser gesagt, ich redete, und mein Vater hörte zu, als wäre ich eins dieser Kinder, die mit einer Sporttasche voller Staublappen, Fensterleder und Bügelbrettbezügen vor der Tür stehen und einem weismachen, wenn man ihnen etwas abkaufte, würden sie nicht auf die schiefe Bahn geraten. Am Ende wusste ich, wie es ihnen ging, wenn ich ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Mein Vater hörte mir höflich zu, während ich die Waren in meiner Tasche anpries, aber kaufen wollte er nichts. Schließlich sagte ich: »Aber du überlegst es dir noch einmal, Dad? Lässt dir etwas Zeit?«
    »Wenn ich mir etwas Zeit lasse, bin ich tot.«
    Seit ich erwachsen war, gingen wir stets freundlich-distanziert miteinander um; vieles blieb ungesagt, doch es herrschte eine liebevolle Ebenbürtigkeit. Nun hatte sich eine neue Kluft zwischen uns aufgetan. Oder vielleicht war es auch die alte: Mein Vater war wieder zur elterlichen Autorität geworden und machte seine größere Lebenserfahrung geltend.
    »Dad, es geht mich ja nichts an und so weiter, aber ist die Sache … körperlich?«
    Er sah mich mit seinen klaren, graublauen Augen an, nicht vorwurfsvoll, sondern ganz ruhig. Falls einer von uns rot werden sollte, dann ich. »Es geht dich tatsächlich nichts an, Chris. Aber da du schon fragst, die Antwort heißt ja.«
    »Und …?« Ich wusste nicht weiter. Mein Vater war kein Herr in mittleren Jahren, der sich von einem Nymphchen den Kopf verdrehen lässt; er war mein einundachtzigjähriger

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