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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Erzeuger, der nach rund fünfzigjähriger Ehe ausziehen wollte, um mit einer Frau von Mitte sechzig zusammenzuleben. Ich scheute mich, auch nur die Fragen zu formulieren.
    »Aber … warum gerade jetzt? Ich meine, wenn das schon jahrelang so geht …«
    »Wieso jahrelang?«
    »Weil du jahrelang angeblich in deinem Club warst und Billard gespielt hast.«
    »Meistens war ich ja im Club, mein Sohn. Ich habe immer Billard gesagt, um die Sache zu vereinfachen. Manchmal habe ich einfach nur im Auto gesessen. Und habe auf ein Feld geschaut. Nein, Elsie kam erst … vor kurzem.«
    Später half ich meiner Mutter beim Abtrocknen. Sie reichte mir den Deckel einer Auflaufform und sagte: »Ich glaube, er nimmt dieses Zeug.«
    »Welches Zeug?«
    »Du weißt schon. Dieses Zeug.« Ich legte den Deckel hin und streckte die Hand nach einem Topf aus. »Es steht in allen Zeitungen. Klingt so ähnlich wie Niagara.«
    »Ach so.« Eine relativ leichte Frage beim Kreuzworträtsel.
    »Amerika ist offenbar voll von alten Männern, die rumlaufen wie die Rammler.« Ich versuchte, mir meinen Vater nicht als Rammler vorzustellen. »Die Männer sind alle Dummköpfe, Chris, und sie werden mit jedem Jahr nur noch dümmer. Ich wünschte, ich wäre von Anfang an meinen eigenen Weg gegangen.«
    Später, im Bad, machte ich die Spiegeltür eines Eckschränkchens auf und schaute hinein. Hämorrhoidensalbe, Shampoo für feines Haar, Watte, ein Kupferarmband gegen Arthritis aus dem Versandhauskatalog … Sei nicht albern, dachte ich. Nicht hier, nicht jetzt, nicht mein Vater.
    Zuerst dachte ich: Das ist ein ganz alltäglicher Fall, wo ein Mann wieder mal dem Reiz des Neuen, dem Eigendünkel und dem Sex erlegen ist. Die Alterskonstellation lässt es anders aussehen, aber das scheint nur so. Es ist gewöhnlich, banal, abgedroschen.
    Dann dachte ich: Was weiß ich schon? Wie komme ich zu der Annahme, dass meine Eltern keinen Sex mehr haben – hatten? Bis zu diesem Zwischenfall schliefen sie immer noch im selben Bett. Was weiß ich schon von Sex in diesem Alter? Blieb immer noch die Frage: Was ist schlimmer für meine Mutter, mit – sagen wir – fünfundsechzig auf Sex zu verzichten und fünfzehn Jahre später zu entdecken, dass der Ehemann sich mit einer Frau einlässt, die so alt ist, wie sie damals war, als sie darauf verzichtet hat; oder nach einem halben Jahrhundert immer noch Sex mit dem Ehemann zu haben, um dann zu entdecken, dass er sich auch anderweitig vergnügt?
    Und danach dachte ich: Und wenn es eigentlich gar nicht um Sex geht? Hätte es mir weniger ausgemacht, wenn mein Vater gesagt hätte: »Nein, mein Sohn, das Kör perliche hat damit überhaupt nichts zu tun, ich habe mich einfach nur verliebt«? Die Frage, die ich gestellt hatte und die mir damals so schwierig erschien, war in Wirklichkeit die einfachere. Wie komme ich zu der Annahme, dass mit den Genitalien auch das Herz den Betrieb einstellt? Weil wir das Alter als eine Zeit der heiteren Gelassenheit sehen wollen – sehen müssen? Inzwischen glaube ich, dass das eine der großen Verschwörungen der Jugend ist. Nicht nur der Jugend, auch der mittleren Jahre, und das geht so weiter bis zu dem Moment, in dem wir zugeben, selbst alt zu sein. Und die Verschwörung ist umso größer, als die Alten unserem Glauben noch Vorschub leisten. Sie sitzen da mit einer Decke über den Knien, nicken ergeben und sagen jaja, ihre wilden Jahre seien nun vorbei. Ihre Bewe gungen sind langsamer, ihr Blut ist dünner geworden. Das Feuer ist erloschen – oder zumindest wurde eine Schau fel Schlacke darauf geworfen für die bevorstehende lan ge Nacht. Und nun weigerte sich mein Vater, dieses Spiel mitzumachen.
    Ich sagte meinen Eltern nichts davon, dass ich Elsie besuchen wollte.
    »Ja?« Sie stand an der Riffelglastür, die Arme unter dem Busen verschränkt, den Kopf hoch erhoben, und ihre lächerliche Brille glitzerte in der Sonne. Die Haare hatten die Farbe herbstlicher Buchen und wurden, wie ich jetzt sah, am Scheitel schütter. Ihre Wangen waren gepudert, aber nicht genug, um eine Sternwolke geplatzter Äderchen hier und da zu überdecken.
    »Können wir miteinander reden? Ich … Meine Eltern wissen nicht, dass ich hier bin.«
    Sie drehte sich wortlos um, und ich folgte ihren Nahtstrümpfen durch einen schmalen Flur ins Wohnzimmer. Ihr Bungalow hatte exakt denselben Grundriss wie der meiner Eltern: rechts die Küche, geradeaus zwei Schlafzimmer, neben dem Bad eine Abstellkammer, links das Wohnzimmer.

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