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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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geht’s dir, Dad?« Ich hatte die direkte Frage vermeiden wollen, aber irgendwie war mir das nicht gelungen.
    »Motor läuft prächtig. Karosserie könnte besser sein. Chassis fängt an zu rosten.«
    Jetzt ist er bettlägerig; manchmal hat er seinen eigenen grün gestreiften Schlafanzug an, häufiger noch ein schlecht sitzendes Erbstück von jemand anderem – vielleicht jemand, der tot ist. Er zwinkert mir zu wie früher und nennt alle Leute »Schatz«. Er sagt: »Meine Frau, wissen Sie. So viele glückliche Jahre.«
    Meine Mutter betrachtete die letzten Dinge von der prak tischen Seite. Das heißt, die letzten Dinge des modernen Lebens: ein Testament aufsetzen, für das Alter vorsorgen, dem Tod ins Auge sehen und nicht an ein Leben danach glauben können. Mein Vater war über sechzig, als er sich endlich dazu bewegen ließ, ein Testament aufzusetzen. Er sprach nie vom Tod, jedenfalls nicht, wenn ich in Hör weite war. Und was das Leben nach dem Tod angeht: Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen wir als Familie eine Kirche betraten (und das nur zu Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen), kniete er kurz nieder und drückte die Fin ger an die Stirn. War das ein Gebet, irgendeine säkulare Entsprechung dazu oder einfach nur eine aus der Kind heit zurückgebliebene Gewohnheit? Vielleicht war es ein Zeichen der Höflichkeit oder Unvoreingenommenheit? Die Haltung meiner Mutter zu den Mysterien des Glau bens war eindeutiger. »Blödsinn.« »Alles nur Brimborium.« »So was tust du mir nicht an, hast du verstanden, Chris?« »Ja, Mum.«
    Und nun frage ich mich: Steckte hinter der Schweigsamkeit und dem Augenzwinkern meines Vaters, hinter seiner scherzhaften Nachgiebigkeit meiner Mutter gegenüber, hinter den Ausflüchten – oder, wenn Sie so wollen, den guten Manieren – angesichts der letzten Dinge Panik und Todesangst? Oder ist das eine dumme Frage? Bleibt überhaupt jemand von Todesangst verschont?
    Nach dem Tod von Jim Royce versuchte Elsie, weiterhin Kontakt mit meinen Eltern zu halten. Es gab Einladungen zum Tee, zum Sherry und zur Besichtigung des Gartens; doch meine Mutter lehnte immer ab.
    »Wir haben uns nur mit ihr abgegeben, weil wir ihn mochten«, sagte sie.
    »Ach, sie ist doch ganz nett«, antwortete mein Vater dann. »Sie tut keinem was zuleide.«
    »Ein Sack Torf tut auch keinem was zuleide. Darum muss man aber noch lange nicht hingehen und ein Glas Sherry mit ihm trinken. Auf jeden Fall hat sie bekommen, was sie wollte …«
    »Und das wäre?«
    »Seine Rente. Jetzt hat sie ausgesorgt. Braucht keine Idioten wie uns, um sich die Zeit zu vertreiben.«
    »Jim hätte es gern gesehen, wenn wir uns weiter um sie kümmerten.«
    »Jim hat damit nichts mehr zu tun. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, wenn sie anfing zu quasseln. Man konnte geradezu hören, wie seine Gedanken auf Wanderschaft gingen.«
    »Ich dachte, sie hingen sehr aneinander.«
    »Du mit deiner Beobachtungsgabe.«
    Mein Vater zwinkerte mir zu.
    »Was zwinkerst du denn?«
    »Zwinkern? Ich? Würde ich so was tun?« Mein Vater drehte den Kopf um weitere zehn Grad und zwinkerte noch einmal.
    Ich werde daraus einfach nicht schlau: Mein Vater benahm sich immer so, dass er einen Teil seines Benehmens dementierte. Wo ist da die Logik?
    Die Entdeckung kam folgendermaßen zustande. Es ging um Blumenzwiebeln. Eine Freundin in einem Nachbardorf hatte ein paar überzählige Narzissen abzugeben. Meine Mutter sagte, mein Vater werde sie auf dem Rückweg von der British Legion abholen. Sie rief im Club an und wollte ihn sprechen. Die Sekretärin sagte, er sei nicht da. Wenn meine Mutter eine Antwort bekommt, mit der sie nicht gerechnet hat, schiebt sie das gern auf die Dummheit ihres Gesprächspartners.
    »Er spielt Billard«, sagte sie.
    »Nein, das tut er nicht.«
    »Seien Sie doch nicht so vernagelt«, sagte meine Mutter, und ich kann mir ihren Tonfall nur allzu gut vorstellen. »Er spielt mittwochnachmittags immer Billard.«
    »Gute Frau«, bekam sie dann zu hören. »Ich arbeite schon zwanzig Jahre als Sekretärin hier im Club, und in dieser Zeit wurde mittwochnachmittags noch nie Billard gespielt. Montags, dienstags, freitags ja. Mittwochs nicht. Drücke ich mich klar aus?«
    Als meine Mutter dieses Gespräch führte, war sie achtzig, mein Vater einundachtzig.
    »Komm her und bring ihn zur Räson. Er wird langsam gaga. Ich könnte dieses Weibsbild erwürgen.« Jetzt musste ich wieder ran. Immer ich, wie üblich, nie meine Schwester. Aber diesmal

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