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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Harvey Oswald. Ob ihr auch nichts passiert? Und was ist mit sexuellen Belästi gungen auf diesen Kreuzfahrtschiffen? Sie war ein gut aus sehendes Mädchen. Verzeihung, Marie Claire , ich meinte: Frau. Aber doch irgendwie ein Mädchen, weil sie bei Leu ten wie ihm solche halb elterlichen Gefühle auslöste: bei Leuten, die zu Hause blieben, zur Arbeit gingen und sich die Haare schneiden ließen. Sein Leben, das musste er zu geben, war ein einziges feiges Abenteuer gewesen.
    »Wie alt bist du?«
    » Sieben undzwanzig«, sagte Kelly, als sei das das äußerste Ende der Jugend. Wenn sie nicht umgehend etwas unternahm, würde ihr Leben in ewigem Mittelmaß dahingehen; noch ein paar Wochen, und sie wäre genauso wie diese alte Schachtel mit Lockenwicklern auf der anderen Seite des Salons.
    »Ich habe eine Tochter, die fast so alt ist wie du. Na ja, sie ist fünfundzwanzig. Ich meine, wir haben noch eine andere. Insgesamt zwei.« Irgendwie kam das nicht richtig heraus.
    »Wie lange bist du denn schon verheiratet?«, fragte Kelly gewissermaßen mathematisch erstaunt.
    Gregory schaute auf und sah sie im Spiegel an. »Achtundzwanzig Jahre.« Sie lächelte übermütig bei der Vorstellung, dass ein Mensch schon so wahnsinnig lange verheiratet sein konnte, wie sie selbst am Leben war.
    »Die Ältere ist natürlich schon aus dem Haus«, sagte er. »Aber Jenny wohnt noch bei uns.«
    »Wie schön«, sagte Kelly, aber er merkte, dass sie das jetzt langweilte. Genauer gesagt, dass er sie jetzt langweilte. Wieder so ein alternder Knacker mit schütter werdendem Haar, das er bald sorgfältiger kämmen musste. Ab nach Miami, und zwar bald.
    Er hatte Angst vor Sex. Das war die Wahrheit. Er wuss te nicht mehr so recht, wozu das Ganze eigentlich gut war. Wenn es sich ergab, hatte er durchaus Spaß dabei. Er stellte sich vor, dass es in Zukunft allmählich weniger werden und dann, irgendwann, ganz aufhören würde. Aber davor hatte er keine Angst. Es lag auch nicht an der einschüchternden Anschaulichkeit, mit der das Thema in den Zeitschriften behandelt wurde. Einschüchternde Anschaulichkeit hatte es in seiner Jugend auch gegeben. Alles schien so klar und gewagt, damals, als er in der Badewanne aufstand und Allie seinen Schwanz in den Mund nahm. Das war alles ganz selbstverständlich gewesen und zwingend in seiner Wahrheit. Jetzt fragte er sich, ob er sich nicht immer getäuscht hatte. Er wusste nicht, wozu Sex gut sein sollte. Er glaubte auch nicht, dass es irgendjemand anders wusste, aber das machte die Sache nicht besser. Am liebsten hätte er gebrüllt. Am liebsten hätte er in den Spiegel gebrüllt und zugeschaut, wie er selbst zurückbrüllte.
    Kelly drückte ihre Hüfte an seinen Bizeps, und zwar nicht den Rand, sondern die innere Hüftbeuge. Wenigstens kannte er jetzt die Antwort auf eine der Fragen seiner Jugend: Ja, Schamhaar wird auch grau.
    Um das Trinkgeld machte er sich keine Gedanken. Er hatte einen Zwanzigpfundschein. Siebzehn fürs Haareschneiden, eins für das Mädchen, das ihm die Haare gewaschen hatte, und zwei für Kelly. Und für den Fall, dass sie die Preise erhöht hatten, vergaß er nie, ein Pfund extra einzustecken. So ein Mensch war er nun mal, erkannte er. Der Mann mit der Reserve-Pfundmünze in der Tasche.
    Jetzt war Kelly mit Schneiden fertig und stand direkt hinter ihm. Ihre Brüste tauchten zu beiden Seiten seines Kopfes auf. Sie nahm seine Koteletten zwischen Daumen und Zeigefinger und schaute dann weg. Das war so ein Trick von ihr. Jedes Gesicht ist ein bisschen schief, hatte sie ihm erklärt, darum kann der Augenschein täuschen. Sie verließ sich auf ihr Gefühl und drehte sich dabei zur Kasse und zur Straße hin. Richtung Miami.
    Zufrieden griff sie dann nach dem Föhn und brachte mit den Fingern einen Soufflé-Effekt zustande, der bis zum Abend halten würde. Inzwischen arbeitete sie rein mechanisch und überlegte dabei vielleicht, ob sie Zeit genug hätte, um auf eine Zigarette nach draußen zu huschen, bevor ihr der nächste feuchte Kopf zugeführt wurde. Darum vergaß sie es wie jedes Mal und holte wieder den Spiegel.
    Diese Dreistigkeit hatte er sich vor ein paar Jahren geleistet. Eine Revolte gegen die Tyrannei des verdammten Spiegels. Die eine Seite, die andere Seite. Über vierzig Jahre war er zum Haarschneider, zum Friseur und zum Glatzenstriegler gegangen und hatte sich immer brav gefügt, egal, ob er seinen Hinterkopf wiedererkannte oder nicht. Er hatte gelächelt und genickt, und wenn er das

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