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Der Zitronentisch

Der Zitronentisch

Titel: Der Zitronentisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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mir erzählt, was er weiß«, antwortete Frau Lindwall.
    Ihre Worte verwirrten ihn. War das eine Kritik an Gertrud, eine Ermunterung für ihn oder eine bloße Feststellung?
    Abends fragte seine Frau beim Essen: »Worüber sprichst du mit Frau Lindwall?«
    Er wusste nicht, was er antworten sollte, oder vielmehr, wie er antworten sollte. Doch wie gewohnt nahm er Zuflucht zu der einfachsten Bedeutung der Worte und zeigte sich nicht überrascht von der Frage. »Über den Wald. Ich habe ihr den Wald erläutert.«
    »Und zeigte sie Interesse? An dem Wald, meine ich.«
    »Sie ist in der Stadt aufgewachsen. Sie hatte noch nie so viele Bäume gesehen, bevor sie in diese Gegend zog.«
    »Nun ja«, sagte Gertrud, »es sind wirklich furchtbar viele Bäume in einem Wald, nicht wahr, Anders?«
    Er wollte sagen: Sie hat mehr Interesse am Wald gezeigt als du in deinem ganzen Leben. Er wollte sagen: Du urteilst sehr unfreundlich über ihr Aussehen. Er wollte sagen: Wer hat gesehen, wie ich mit ihr sprach? Er sagte nichts von alldem.
    Während der nächsten zwei Wochen sann er darüber nach, dass Barbro ein Name von lieblicher Bedeutsamkeit war und einen weicheren Klang hatte als … andere Namen. Er dachte auch, dass ihm von einem blauen Band an einem Strohhut froh ums Herz wurde.
    Als er am Dienstagmorgen aufbrach, sagte Gertrud: »Grüß doch die kleine Frau Lindwall von mir.«
    Auf einmal wollte er sagen: »Und wenn ich mich nun in sie verliebe?« Stattdessen antwortete er: »Das werde ich tun, falls ich sie sehe.«
    Auf dem Dampfer brachte er kaum die üblichen gemessenen Höflichkeiten zustande. Noch ehe sie abgelegt hatten, begann er ihr zu erzählen, was er wusste. Über Nutz holz und wie es angebaut, transportiert und geschnitten wird. Er erläuterte Scharfschnitt und Quartierschnitt. Er sprach über die drei Teile eines Stamms: Mark, Kernholz und Splintholz. Bei Bäumen, die das Stadium der Reife erreicht haben, nimmt das Kernholz den größten Anteil ein, und das Splintholz ist fest und biegsam. »Ein Baum ist wie ein Mann«, sagte er. »Er braucht siebzig Jahre, um das Stadium der Reife zu erlangen, und nach hundert Jah ren ist er nutzlos.«
    Er erzählte ihr, wie er einmal in Bergsforsen, wo eine eiserne Brücke die Stromschnellen überspannt, vierhundert Männern bei der Arbeit zugeschaut hatte: Sie fingen die Stämme ein, die aus dem Fluss auftauchten, und fassten sie je nach den Markierungen ihrer Besitzer in sorterings bommar zusammen. Wie ein Mann von Welt erläuterte er ihr die verschiedenen Kennzeichnungssysteme. Schwedisches Holz wird mit roten Lettern gestempelt, mindere Qualitäten blau. Norwegisches Holz wird an beiden Seiten blau mit den Initialen des Verschiffers gestempelt. Preußisches Holz wird in der Mitte seitlich gekerbt. Russisches Holz wird an den Enden trocken gestempelt oder gehämmert. Kanadisches Holz wird schwarz-weiß markiert. Amerikanisches Holz wird seitlich mit roter Kreide gekennzeichnet.
    »Haben Sie das alles gesehen?«, fragte sie. Er räumte ein, bislang habe er nordamerikanisches Holz noch nicht mit eigenen Augen gesehen; er habe lediglich darüber gelesen.
    »So erkennt also jeder Mann sein eigenes Holz?«, fragte sie.
    »Natürlich. Sonst könnte ja einer des anderen Holz stehlen.«
    Er konnte nicht sehen, ob sie über ihn – ja, über die ganze Männerwelt lachte.
    Plötzlich blitzte ein Licht vom Ufer herüber. Sie dreh te sich davon fort und wieder zu ihm hin, und als er ihr Gesicht von vorn sah, formten sich die Eigentümlichkei ten des Profils zu einer harmonischen Einheit: Das kleine Kinn ließ ihre Lippen hervortreten, ihre Nasenspitze, ihre offenen, graublauen Augen … keine Beschreibung, nicht einmal Bewunderung wurde dem gerecht. Er fand es klug von sich, dass er die Frage in ihren Augen erriet.
    »Dort ist ein Belvedere. Wahrscheinlich hat jemand ein Perspektiv. Wir stehen unter Beobachtung.« Doch bei dem letzten Wort verlor er das Selbstvertrauen. Es klang wie etwas, das ein anderer Mann sagen würde.
    »Warum?«
    Er wusste nicht, was er antworten sollte. Er sah fort, zum Ufer hin, wo wieder das Belvedere aufblitzte. In seiner Verlegenheit erzählte er ihr die Geschichte von Mats Israelson, aber er erzählte sie in der falschen Reihenfolge und zu schnell, und sie schien kein Interesse daran zu haben. Sie schien nicht einmal zu erkennen, dass es eine wahre Geschichte war.
    »Es tut mir Leid«, sagte sie, als habe sie seine Enttäuschung gespürt. »Ich habe nur wenig

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