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Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich

Titel: Der Zug war pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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ist wirklich so dekadent, aber er ist ein Mensch. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Es wäre wahnsinnig schwer, mit den andern allein zu sein, die jetzt wieder den Flur füllen, diesen Schwätzern, die von nichts reden können als von Urlaub und Heldentum, von Beförderungen und Orden, von Fressen und von Tabak und von Weibern, Weibern, Weibern, die ihnen allen zu Füßen gelegen haben … Kein Mädchen wird mir nachweinen, denkt er, das ist seltsam. Das ist traurig. Wenn irgendwo eine an mich denken würde! Auch wenn sie unglücklich wäre. Gott ist mit den Unglücklichen. Das Unglück ist das Leben, der Schmerz ist das Leben. Es wäre schön, wenn irgendwo eine an mich dächte und mir nachweinte … ich würde sie hinter mir herziehen … ich würde sie an ihren Tränen hinter mir herschleppen, sie sollte nicht in alle Ewigkeit auf mich warten. Kein Mädchen! Das ist seltsam. Keine, die ich geküßt habe. Es ist wohl möglich, doch nicht wahrscheinlich, daß die eine noch an mich denkt; sie kann nicht mehr an mich denken. Eine Zehntelsekunde haben unsere Augen ineinander geruht, vielleicht noch weniger als eine Zehntelsekunde, und ich kann ihre Augen nicht vergessen.
    Dreiundeinhalb Jahre lang hab ich an sie denken müssen und hab sie nicht vergessen können. Nur eine Zehntelsekunde lang oder weniger, und ich weiß nicht, wie sie heißt, nichts weiß ich, nur ihre Augen kenne ich, sehr sanfte, fast blasse, traurige Augen von einer Farbe wie dunkelgeregneter Sand; unglückliche Augen, viel Tieri-sches darin und alles Menschliche, und nie, nie vergessen, 35

    keinen Tag seit dreiundeinhalb Jahren, und ich weiß nicht, wie sie heißt, weiß nicht, wo sie wohnt. Dreiundeinhalb Jahre! Ich weiß nicht, ob sie groß war oder klein, nicht einmal ihre Hände hab ich gesehen. Wenn ich doch wenigstens ihre Hände gesehen hätte! Nur das Gesicht, nicht einmal das genau; dunkles Haar, vielleicht schwarz, vielleicht braun, ein schmales, langes Gesicht, nicht hübsch, nicht glatt, aber die Augen, fast schräg, wie dunkler Sand, voll Unglück, und diese Augen gehören mir, mir ganz allein, und diese Augen haben auf mir geruht und gelächelt eine Zehntelsekunde lang … Da war nur ein Zaun und dahinter ein Haus, und auf dem Zaun lagen zwei Ellenbogen, und zwischen diesen Ellenbogen lag das Gesicht, lagen diese Augen in einem französischen Nest hinter Amiens; unter dem glühenden Sommerhimmel, der von Hitze grau-gebrannt war. Und da war eine Landstraße vor meinen Augen, die lief bergauf zwischen ärmlichen Bäumen, und rechts lief eine Mauer mit, und hinter uns dampfte Amiens wie in einem Kessel; Rauch lag über der Stadt, und der düstere Rauch des Kampfes schwelte wie ein Gewitter, links fuhren Krafträder vorbei mit hysterischen Offizieren, Panzer rollten breitspurig und überschütteten uns mit Staub, und vorne irgendwo brüllten Kanonen. Die Landstraße, die den Berg hinauflief, machte mich plötzlich schwindeln, sie drehte sich vor meinen Augen, und die Mauer, die rechts neben der Straße wie verrückt den Berg hinauflief, kippte plötzlich um, kippte einfach um, und ich schlug mit der Mauer zur Seite, als sei mein Leben das Leben der Mauer. Die ganze Welt drehte sich, und ich sah nichts mehr von ihr als ein stürzendes Flugzeug, aber das Flugzeug stürzte nicht von oben nach unten, nicht vom Himmel zur Erde, sondern von der Erde zum Himmel, und 36

    ich sah jetzt, daß der Himmel die Erde war, ich lag auf der graublauen unbarmherzig heißen Fläche des Himmels.
    Dann kippte mir jemand Cognac ins Gesicht, rieb mich, kippte mir Cognac in den Hals, und ich durfte aufblicken und sah über mir den Zaun, diesen Zaun, diesen Zaun aus Ziegelsteinen mit Lücken drin, und auf diesem Zaun lagen zwei spitze Ellenbogen, und zwischen den Ellenbogen sah ich diese Augen eine Zehntelsekunde lang. Dann schrie der Leutnant: »Weiter, weiter. Auf!« Und irgendeiner schnappte mich beim Kragen und warf mich in die Landstraße hinein, und die Straße zog mich fort, und ich war wieder eingeklemmt in die Kolonne und konnte mich nicht umblicken, nicht einmal umblicken …
    Ach, ist es so schändlich, wenn ich gerne gewußt hätte, welche Stirn zu diesen Augen gehörte, welcher Mund und welche Brust und welche Hände? Ach, wäre es zuviel gewesen, wenn ich hätte erfahren dürfen, welches Herz da-zugehörte, ein Mädchenherz vielleicht; wenn ich den Mund, der zu diesen Augen gehörte, einmal hätte küssen dürfen, bevor sie mich ins

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