Der Zug war pünktlich
Mittwoch weiß ich …
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und ich habe nichts getan, ich weiß es ganz bestimmt und habe kaum mehr gebetet als sonst auch. Ich habe Karten gespielt, ich habe Schnaps getrunken, ich habe mit ausge-zeichnetem Appetit gegessen, und ich habe geschlafen. Ich habe viel zuviel geschlafen, und die Zeit ist gesprungen, immer springt die Zeit, und jetzt sitze ich schon vierundzwanzig Stunden davor. Nichts habe ich getan: Wenn man weiß, daß man stirbt, da hat man doch allerlei zu regeln, zu bereuen und zu beten, viel zu beten, und ich habe kaum mehr gebetet als sonst. Und ich weiß es doch ganz genau.
Ich weiß es genau. Samstag morgen. Sonntag morgen.
Buchstäblich noch ein Tag. Ich muß beten, beten …
»Gib mir doch mal ‘nen Schluck, es ist saumäßig kalt.«
Der Blonde steckt seinen Kopf ins Abteilfenster, und unter dem Stahlhelm sieht sein degenerierter Windhundschädel schrecklich aus. Willi hält ihm die Pulle an den Hals und läßt ihn lange schlucken. Er hält auch Andreas die Flasche hin.
»Nein«, sagt Andreas.
»Da kommt ein Zug.« Es ist wieder die Stimme des Blonden. Alle stürzen zum Fenster. Es ist eine halbe Stunde hinter dem einen Zug, und wieder einer, wieder ein Truppentransport, und wieder Lieder, wieder Wildbretschütz … Wildbretschütz und Heidemarie in dieser dunklen traurigen polnischen Nacht … Wildbretschütz. Lange dauert das, ehe so ein ganzer Zug vorbei ist … mit Troß und Küchenwagen und den Waggons für die Soldaten, und dauernd Wildbretschütz und »und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt … ganze Welt …
ganze Welt …«
»Wieder SS«, sagt Willi, »und alles nach Tscherkassy.
Da scheint die Scheiße auch zusammenzubrechen.« Er 74
sagt das leise, denn neben ihm wird eifrig und optimistisch davon gesprochen, daß sie es schon schmeißen werden.
Ganz leise klingen die Wildbretschützen ab in der Nacht. Man hört das Lied verdämmern in der Richtung auf Lemberg zu, wie ein leises, sehr sanftes Wimmern, und dann ist wieder die dunkle traurige polnische Nacht …
»Wenn nur nicht siebzehn von diesen Zügen kommen«, murmelt Willi. Er bietet Andreas wieder die Pulle an, aber der lehnt wieder ab. Jetzt ist es endlich Zeit, denkt er, daß ich bete. Die vorletzte Nacht meines Lebens will ich nicht verpennen, nicht verdösen, nicht mit Schnaps besudeln und nicht versäumen. Ich muß jetzt beten und vor allen Dingen bereuen. Man hat soviel zu bereuen, auch in einem so unglücklichen Leben wie dem meinen gibt es eine Menge zu bereuen. Damals in Frankreich, da hab ich bei glühender Hitze eine ganze Flasche Cherry Brandy getrunken, wie ein Tier, fiel um wie ein Tier und wäre fast gestorben. Eine ganze Pulle Cherry Brandy bei fünfund-dreißig Grad im Schatten auf der baumlosen Straße eines französischen Nestes. Weil ich ganz krank war vor Durst und nichts anderes zu trinken da. Das war scheußlich, und ich bin acht Tage nicht die Kopfschmerzen losgeworden.
Und ich habe mit Paul Krach gehabt und habe ihn immer einen Pfaffen geschimpft, immer hab ich auf die Pfaffen geschimpft. Es ist schrecklich, wenn man sterben muß, daran zu denken, daß man jemand beschimpft hat. Auch die Pauker in der Schule habe ich beschimpft, und auf die Cicerobüste habe ich Scheiße geschrieben; das war töricht, ich war noch jung, aber ich habe gewußt, daß es schlecht war und blöde, und ich habe es doch getan, weil ich wuß-
te, daß die anderen lachen würden, einzig und allein deshalb habe ich es getan, weil ich wollte, daß die anderen 75
über einen Witz von mir lachen sollten. Aus Eitelkeit.
Nicht weil ich Cicero wirklich für Scheiße hielt; wenn ich es deswegen getan hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen, aber ich habe es wegen des Witzes getan. Man soll nichts wegen eines Witzes tun. Auch über den Leutnant Schreckmüller habe ich Witze gemacht, über diesen traurigen, blassen, kleinen Jungen, dem die Leutnantsschulter-stücke schwer auf den Schultern lagen, sehr schwer, und dem man ansehen konnte, daß er ein Todeskandidat war.
Über ihn habe ich auch Witze gemacht, weil es mich reiz-te, als witzig zu gelten und als spöttischer alter Lands-knecht. Das war vielleicht das Schlimmste, und ich weiß nicht, ob Gott das verzeihen kann. Ich hab Witze über ihn gemacht, über sein Hitlerjungenaussehen, und er war ein Todeskandidat, ich habe es ihm am Gesicht angesehen, und er ist gefallen; beim ersten Angriff unten in den Karpaten ist er abgeknallt worden, und
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