Der Zug war pünktlich
seine Leiche ist einen Abhang hinuntergerollt, ganz furchtbar hinuntergerollt, und im Wälzen hat sich die Leiche voll Dreck gewälzt, das war furchtbar, und es sah wirklich fast lächerlich aus, wie die Leiche sich wälzte, immer schneller, immer schneller, immer schneller, bis sie unten aufgeprallt ist in der Talsohle …
Und in Paris habe ich eine Hure beschimpft. Mitten in der Nacht, das war schlimm. Es war kalt, da hat sie sich an mich rangemacht … sie hat mich regelrecht angefallen, und ich habe an ihren Fingern und ihrer Nasenspitze gesehen, daß sie erbärmlich gefroren hat, gefroren vor Hunger.
Ich habe mich geekelt, als sie gesagt hat: Komm, und ich hab sie weggestoßen, dabei hat sie gefroren und ist häßlich gewesen und ganz allein in dieser großen, breiten Straße, und vielleicht wäre sie froh gewesen, wenn ich bei ihr gelegen hätte in ihrem armseligen Bett und hätte sie bloß ein 76
bißchen gewärmt. Und ich hab sie richtig von mir gesto-
ßen in die Gosse hinein und hab ihr Bosheiten nachge-zischt. Wenn ich nur wissen dürfte, was aus ihr geworden ist in jener Nacht. Vielleicht ist sie in die Seine gegangen, weil sie so häßlich war, daß keiner angebissen hat in dieser Nacht, und das Schreckliche ist, daß ich nicht so hart zu ihr gewesen wäre, wenn sie hübsch gewesen wäre …
Wenn sie hübsch gewesen wäre, wäre mir ihr Beruf vielleicht gar nicht so schrecklich vorgekommen und sie wäre nicht in die Gosse gestoßen worden und ich hätte mich vielleicht ganz gerne selbst bei ihr gewärmt und ganz was anderes noch. Weiß Gott, was geschehen wäre, wenn sie hübsch gewesen wäre. Das ist furchtbar, einen Menschen schlecht zu behandeln, weil er einem häßlich vorkommt.
Es gibt keine häßlichen Menschen. Dieses arme Ding.
Gott verzeih mir vierundzwanzig Stunden vor meinem Tode, daß ich diese arme, häßliche, frierende Hure von mir gestoßen habe, in der Nacht, in der breiten, leeren Straße von Paris, wo kein Freier mehr für sie aufzutreiben war als ich allein. Gott verzeih mir alles, es ist nichts ungeschehen zu machen, nichts ist ungeschehen zu machen, und in alle Ewigkeit hinein wird das jämmerliche Wimmern dieses armen Mädchens in der Straße von Paris hängen und mich anklagen und die armen, hilflosen Hunde-augen des Leutnants Schreckmüller, dem die Schulter-stücke viel zu schwer auf den Kinderschultern lagen …
Wenn ich nur weinen könnte. Über alles das kann ich nicht einmal weinen. Es ist mir schmerzlich und schwer und furchtbar, aber ich kann nicht darüber weinen. Alle können sie weinen, sogar der Blonde, nur ich kann nicht weinen. Gott schenke mir, daß ich weinen kann …
Da muß noch vieles sein, was mir jetzt nicht einfällt.
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Das kann lange nicht alles sein. So manchen hab ich ver-achtet und gehaßt und innerlich beschimpft. Auch den, der gesagt hat: Praktisch, praktisch haben wir den Krieg schon gewonnen, auch den hab ich gehaßt, aber ich hab mich ge-zwungen, für ihn zu beten, weil er so dumm war. Ich muß noch für den beten, der eben gesagt hat: Die werden es schon schmeißen, und alle die, die begeistert den Wildbretschütz gesungen haben.
Die alle hab ich gehaßt, die eben vorbeigefahren sind und haben den Wildbretschütz gesungen … und Heidemarie … und … Es ist so schön, Soldat zu sein … und …
Und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Alle, alle habe ich gehaßt, die so wahnsinnig eng bei mir gelegen haben im Waggon und in der Kaserne. Ach, in der Kaserne …
»Feierabend«, ruft draußen eine Stimme, »alles einsteigen!« Der Blonde kommt rein und der von der anderen Seite, und der Zug pfeift und fährt ab. »Gott sei Dank«, sagt Willi. Aber es ist doch zu spät. Es ist halb vier, und sie haben noch mindestens zwei Stunden bis Lemberg, und um fünf Uhr fährt schon der Kurierzug von Warschau nach Bukarest, der Zivilzug.
»Noch besser«, sagt Willi., »da haben wir einen ganzen Tag in Lemberg.« Er lacht wieder. Er möchte so gern noch mehr von Lemberg erzählen. Man hört es an seiner Stimme, aber niemand fragt, und niemand fordert ihn auf zu erzählen. Sie sind müde, es ist halb vier und kalt, und der dunkle polnische Himmel hängt über ihnen, und die beiden Bataillone oder Regimenter, die da in den Kessel von Tscherkassy reingeschmissen werden sollen, die haben sie nachdenklich gemacht. Keiner spricht, obwohl sie alle nicht schlafen. Nur das Rattern des Zuges schläfert so 78
schön ein und tötet die
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