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Der Zug war pünktlich

Der Zug war pünktlich

Titel: Der Zug war pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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möchtest du denn?«
    »Ich möchte dich verführen, du bist unschuldig, nicht wahr?«
    »Ja«, sagt Andreas und erschrickt, so plötzlich springt sie auf.
    »Ich habe es ja gewußt«, schreit sie, »ich habe es ja ge-wußt.« Er sieht ihr erregtes, rotes Gesicht, ihre Augen, die ihn anblitzen, und er denkt: es ist merkwürdig, noch keine Frau, die ich je gesehen habe, habe ich so wenig begehrt wie diese, die schön ist und die ich sofort haben könnte.
    Ach, manchmal ist es durch mich gezuckt, ohne daß ich es wußte und wollte, daß es wirklich schön ist, eine Frau zu besitzen. Aber noch keine habe ich so wenig begehrt wie diese. Ich werde es ihr erzählen, alles werde ich ihr erzählen …
    »Olina«, sagt er und deutet auf das Klavier, »Olina, spiel die kleine Beethoven-Sonate.«
    »Versprich mir, daß du mich … daß du mich lieben wirst.«
    »Nein«, sagt er ruhig, »setz dich hierher.« Er zwingt sie in den Sessel, und sie blickt ihn stumm an.
    »Paß auf«, sagt er, »ich werde dir jetzt erzählen.«
    Er blickt nach draußen und sieht, daß die Sonne untergegangen ist und daß nur noch ein kleiner Rest von Licht über diesen Gärten liegt. Es wird nicht mehr lange dauern, und es wird kein Sonnenlicht mehr draußen in den Gärten sein, und es wird nie mehr, nie mehr die Sonne scheinen, keinen einzigen Strahl der Sonne wird er mehr sehen. Die letzte 105

    Nacht bricht an, und der letzte Tag ist vergangen wie alle anderen, ungenützt und sinnlos. Ein bißchen nur gebetet und Wein getrunken und nun in einem Bordell. Er wartet, bis es dunkel geworden ist. Er weiß nicht, wie lange es ge-dauert hat, er hat das Mädchen vergessen, er hat den Wein vergessen, das ganze Haus, und er sieht nur oben irgendwo einen Waldrest, auf dessen Baumspitzen noch einige letzte Spritzer der Sonne liegen, die jetzt versinkt, nur ein paar winzige Spritzer der Sonne. Einige rötliche Lichter, die köstlich sind, unsagbar schön auf diesen Baumspitzen. Eine winzige Krone von Licht, das letzte Licht, das er sehen wird. Nicht mehr … doch, noch ein wenig, ein ganz klein wenig auf dem höchsten der Bäume, der am weitesten hin-ausragt und noch etwas auffangen kann von dem goldenen Schein, der nur noch eine halbe Sekunde da ist … bis nichts mehr sein wird. Immer noch, denkt er mit stockendem Atem … immer noch etwas Licht da oben auf der Baumspitze … ein lächerlicher kleiner Schimmer von Sonnenlicht, und ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der darauf achtet. Immer noch … immer noch, es ist wie ein Lä-
    cheln, das sehr langsam erlischt … immer noch, und Schluß! Das Licht ist aus, die Laterne ist verschwunden, und ich werde sie nie mehr sehen …
    »Olina«, sagt er leise, und er spürt, daß er jetzt sprechen kann, und er weiß, daß er sie besiegen wird, weil es dunkel ist. Eine Frau kann man nur im Dunkeln besiegen. Seltsam, denkt er, ob das wirklich wahr ist? Er hat das Gefühl, daß Olina nun ihm gehört, ihm ausgeliefert ist. »Olina«, sagt er leise, »morgen früh muß ich sterben. Ja«, sagt er ruhig in ihr erschrecktes Gesicht, »keine Angst! Morgen früh muß ich sterben. Du bist die erste und die einzige, die es erfährt. Ich weiß es. Ich muß sterben. Eben ist die Son-106

    ne untergegangen. Kurz vor Stryj werde ich sterben …«
    Sie springt auf und sieht ihn entsetzt an. »Du bist verrückt«, murmelt sie mit bleichem Gesicht.
    »Nein«, sagt er, »ich bin nicht verrückt, es ist so, du mußt es glauben. Du mußt glauben, daß ich nicht verrückt bin und daß ich morgen früh sterben werde, und du mußt mir jetzt die kleine Beethoven-Sonate spielen.«
    Sie starrt ihn an und murmelt entsetzt: »Das … das gibt es doch nicht.«
    »Ich weiß es jetzt ganz sicher, und du hast mir das letzte Gewisse gesagt, Stryj, das ist es. Dieser furchtbare Name Stryj. Was ist das für ein Wort? Stryj? Warum muß ich vor Stryj sterben? Warum hieß es erst zwischen Lemberg und Czernowitz … dann Kolomea … dann Stanislau … dann Stryj. Du hast Stryj gesagt, und ich habe gleich gewußt, daß es das ist. Halt«, ruft er, sie ist zur Tür gesprungen und blickt ihn mit entsetzten Augen an. »Du mußt bei mir bleiben«, sagt er, »du mußt bei mir bleiben. Ich bin ein Mensch, und ich kann es nicht allein ertragen. Bleib bei mir, Olina. Ich bin nicht verrückt. Schrei nicht.« Er hält ihr den Mund zu. »Mein Gott, was kann ich tun, um dir zu beweisen, daß ich nicht verrückt bin? Was kann ich tun?
    Sag mir, was ich tun kann,

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