Der Zug War Pünktlich
nach Pogrom riechen und schrecklich traurigen riesigen Gütern, auf denen schwer- mütige Frauen von Ehebrüchen träumen, weil ihre speck- nackigen Männer ihnen zuwider geworden sind …
Galizien, ein dunkles Wort, ein schreckliches Wort, und doch ein schönes Wort. Es ist etwas von einem sehr leise schneidenden Messer darin … Galizien …
Lemberg ist gut. Lemberg kann er sich vorstellen. Schön und düster und ohne Leichtigkeit sind diese Städte, blutig ihre Vergangenheit und wild die Gassen, still und wild.
Der Unrasierte wirft die Konservenbüchse zum Fenster hinaus, steckt das Brot, von dem er einfach so abgebissen hat, in die Tasche und beginnt zu rauchen. Sein Gesicht ist traurig, traurig, irgendwie voll Reue, als schäme er sich des wüsten Kartenspiels und der Schnapstrinkerei; er lehnt sich neben Andreas ins Fenster, und Andreas spürt, daß er sprechen will.
»Sieh da, eine Fabrik«, sagt er, »eine Stuhlfabrik.«
»Ja«, sagt Andreas. Er sieht nichts, er möchte auch nichts sehen, nur die Karte. »Kannst du«, er gibt sich ei- nen Ruck, »kannst du mir mal die Karte geben?«
»Welche Karte?« Andreas spürt einen tiefen Schreck und weiß, daß er bleich wird. Wenn der Unrasierte gar keine Karte hätte?
»Die«, stottert er, »die Landkarte.«
»Ach so …!« Der Unrasierte bückt sich sofort, kramt in der Tasche und reicht ihm die zusammengefaltete Karte.
Es ist schrecklich, daß der Unrasierte sich mit ihm über die Karte beugt. Andreas riecht den Büchsenfleischatem, der noch immer nicht ganz ohne das Aroma verdauten, halbgesäuerten Schnapses ist. Er riecht den Schweiß und den Schmutz und sieht vor Erregung gar nichts, dann sieht er den Finger des Unrasierten, einen dicken, roten, schmutzigen und doch sehr gutmütigen Finger, und der Unrasierte sagt: »Da muß ich hin.« Andreas liest den Na- men des Ortes: »Kolomea« steht da. Seltsam, jetzt, wo er näher zublickt, sieht er, daß Lemberg gar nicht weit von diesem Kolomea liegt … er geht zurück … Stanislau, Lemberg … Lemberg … Stanislau, Kolomea, Czernowitz. Seltsam, denkt er; Stanislau, Kolomea … diese Namen erwecken keinerlei sicheres Echo. Diese Stimme in ihm, diese stets wache und empfindsame Stimme schwankt und zittert wie eine Kompaßnadel, die noch nicht stillstehen kann. Kolomea, werde ich noch bis Kolomea kommen? Nichts Gewisses … ein seltsames Schwanken der ewig vibrierenden Nadel … Stanislau? Dasselbe Schwirren. Ni- kopol! denkt er plötzlich. Nichts.
»Ja«, sagt der Unrasierte, »da liegt meine Einheit. Repa- raturwerkstätte. Ich hab es gut.« Er sagt das mit einer Stimme, als wenn er sagen wollte: Mir geht es entsetzlich schlecht.
Seltsam, denkt Andreas. Ich hatte gedacht, das sei eine Ebene da in der Gegend, es sei ein grüner Fleck mit eini-
gen schwarzen Punkten, aber die Karte ist dort weißlich- gelb. Ausläufer der Karpaten, denkt er plötzlich, und er sieht seine Schule vor sich, die ganze Schule, die Flure und die Büste Ciceros und den schmalen Schulhof, einge- klemmt zwischen Mietskasernen, und im Sommer die Frauen, die im Büstenhalter in den Fenstern lagen, und die Kakaobude unten beim Hausmeister, und den großen, ganz trockenen Speicher, auf dem sie in der Pause schnell eine Zigarette geraucht haben. Ausläufer der Karpaten …
Der Finger des Unrasierten liegt jetzt weiter südöstlich.
»Cherson«, sagt er, »da waren wir zuletzt, und jetzt geht’s weiter zurück, wahrscheinlich nach Lemberg oder in die ungarischen Karpaten hinein. In Nikopol bricht ja auch die Front zusammen, hast du gehört im Bericht? Die waten dort durch den Schlamm zurück, Rückzug durch Schlamm! Das muß Wahnsinn sein, alle Fahrzeuge bleiben stecken, und wenn einmal drei hintereinanderstehen, dann ist alles, was dahinter auf der Straße steht, verloren, da gibt’s kein Zu- rück und kein Vor mehr, und alles wird gesprengt … alles wird gesprengt, und alles muß zu Fuß latschen, vielleicht auch die Generäle … hoffentlich. Aber die fliegen sicher … Sie müßten zu Fuß gehen, zu Fuß, wie des Führers liebe Infanterie. Bist du bei der Infanterie?«
»Ja«, sagt Andreas. Er hat nicht viel verstanden. Sein Blick liegt fast zärtlich auf diesem Kartenabschnitt, der gelblichweiß ist und wo nur vier schwarze Punkte sind, ein ganz dicker, das ist Lemberg, und ein etwas kleinerer, das ist Czernowitz, und zwei ganz kleine: Kolomea und Sta- nislau.
»Schenk mir die Karte«, sagt er heiser, »schenk sie mir«, ohne
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