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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Blonde kann nichts hören. Er sitzt ruhig da, ganz ruhig, fast gemütlich, und schmiert aus einem sehr sauberen Schraubglas knallrote Marmelade auf weißes Brot. Sehr sauber und ruhig schmiert er und beißt wie ein Bürokrat, fast wie ein Ober- inspektor. Vielleicht ist der Blonde Inspektor. Der Unra- sierte schweigt, und es schüttelt ihn etwas. Seine Worte kann niemand gehört haben. Der Zug hat sie weggerissen
    … sie sind fortgeflogen, unhörbar weggeflogen mit dem Luftzug … sie sind vielleicht zurückgeflogen nach Dres- den … nach Radebeul … wo die kleine Fliege hockt und wo das Mädchen mit dem gelben Kleid auf sein Fahrrad gestützt steht … immer noch … immer noch.
    »Ja«, sagt der Unrasierte, er spricht schnell, fast amtlich, als wolle er eine angefangene Spule schnell abhaspeln.
    »Ich bin abgehauen, einfach abgehauen. Ich hatte mir un- terwegs die Arbeitshose angezogen, weil ich doch meine
    neue schwarze Panzerhose mit der Bügelfalte schonen wollte für den Urlaub. Ich hab mich auf meine Frau ge- freut gehabt … wahnsinnig gefreut … nicht nur auf … nicht nur auf das. Nein, nein!«
    Er schreit: »Das ist etwas ganz anderes, worauf man sich freut. Das ist doch zu Hause, das ist doch deine Frau, Mensch. Das ist doch nichts, was man mit den andern Weibern macht, das vergißt du nach einer Stunde wieder
    … und nun, nun sitzt da ein Russe, ein langer Kerl, soviel hab ich gesehen, und wie der dalag und rauchte, so faul können wir gar nicht daliegen und rauchen … wir können nirgendwo in der Welt so faul liegen und rauchen. Und auch an seiner Nase hab ich gesehen, daß er ein Russe war
    … man sieht’s ja an der Nase …«
    Ich muß mehr beten, denkt Andreas, ich habe seit der Abfahrt von zu Hause kaum noch gebetet. Der Unrasierte schweigt wieder und blickt in die sanfte Landschaft, in der die Sonne jetzt wie ein goldener Schimmer liegt. Der Blonde sitzt immer noch, er trinkt aus einer Flasche Kaf- fee und ißt jetzt Weißbrot mit Butter, die Butter ist in einer nagelneuen Butterdose; er ißt sehr planmäßig, sehr sauber. Ich muß mehr beten, denkt Andreas, und eben will er an- fangen, da beginnt der Unrasierte wieder. »Ja, ich bin ab- gehauen. Mensch, in den nächsten Zug und alles wieder mitgenommen. Schnaps und Fleisch und Geld, Mensch, wieviel Geld hatte ich mitgebracht, doch alles für sie, Mensch, wofür habe ich denn immer alles geschleppt, nur für sie. Wenn ich nur Schnaps hätte, jetzt Schnaps … wo- her jetzt Schnaps kriegen, ich hab schon hin und her über- legt, hier sind sie ja bescheuert, hier kennen sie keinen Schwarzmarkt …«
    »Ich hab Schnaps«, sagt Andreas, »willst du?«
    »Schnaps … Mensch … Schnaps!«
    Andreas lächelt. »Ich geb dir den Schnaps für die Land- karte, ja?« Der Unrasierte umarmt ihn. Er hat ein fast glückliches Gesicht. Andreas beugt sich zu seiner Tasche hinunter und kramt eine Flasche Schnaps heraus. Einen Augenblick lang denkt er: ich will pädagogisch sein und ihm die zweite Flasche erst geben, wenn er sie braucht oder wenn er nach dem Rausch, den er sich ansäuft, wie- der wach geworden ist. Aber dann greift er noch einmal in die Tasche und holt die zweite Flasche heraus.
    »Da«, sagt er, »trink sie allein, ich mag nicht, nein!« Bald werde ich sterben, denkt er … bald, bald, und die-
    ses Bald ist schon nicht mehr so verschwommen, er hat sich herangetastet an dieses Bald, hat es umschlichen und umschnüffelt, und er weiß schon, daß er in der Nacht von Samstag auf Sonntag sterben wird, zwischen Lemberg und Czernowitz … in Galizien. Da unten ist Ostgalizien, wo er ganz nah an der Bukowina und an Wolhynien ist. Diese Namen sind wie unbekannte Getränke. Bukowina, das klingt nach einem handfesten Pflaumenschnaps, und Wol- hynien, das ist wie ein sehr dickes, fast sumpfiges Bier, wie das Bier, das er einmal in Budapest getrunken hat, richtiges Suppenbier …
    Er blickt noch einmal durch die Scheibe zurück und sieht, wie der Unrasierte die Flasche an den Hals setzt; er sieht auch, wie der Blonde abwinkt, als der Unrasierte ihm anbietet. Dann blickt er wieder hinaus, aber er sieht nichts
    … er sieht nur fern irgendwo diesen polnischen Horizont hinter einer endlosen Fläche, diesen berauschenden, wei- ten Horizont, den er sehen wird, wenn die Stunde da ist … Es ist gut, denkt er, daß ich nicht allein bin. Kein Mensch könnte das allein ertragen, und er ist jetzt froh,
    daß er die Aufforderung zum Kartenspiel angenommen und diese

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