Der Zug War Pünktlich
ist halb vier und kalt, und der dunkle polnische Himmel hängt über ihnen, und die bei- den Bataillone oder Regimenter, die da in den Kessel von Tscherkassy reingeschmissen werden sollen, die haben sie nachdenklich gemacht. Keiner spricht, obwohl sie alle nicht schlafen. Nur das Rattern des Zuges schläfert so
schön ein und tötet die Gedanken, saugt die Nachdenk- lichkeit aus ihren Köpfen, das regelmäßige Rak-Tak-Tak- Bums, Rak-Tak-Tak-Bums, das macht sie schlafen. Sie sind alle arme, graue, hungrige, verführte und betrogene Kinder, und ihre Wiege, das sind die Züge, die Frontur- lauberzüge, die Rak-Tak-Bums machen und sie einschlä- fern.
Der Blonde scheint wirklich zu schlafen. Ihm ist es draußen kalt geworden, und der Dunst hier im Flur muß ihm richtig lauwarm vorkommen und hat ihn eingeschlä- fert. Nur Willi ist wach, Willi, der einmal der Unrasierte war. Man hört manchmal, wenn er zu seiner Wodkapulle greift und glucksend trinkt, und zwischendurch flucht er ganz leise, und manchmal macht er ein Streichholz an und raucht, und dann leuchtet er in Andreas’ Gesicht und sieht, daß der hellwach ist. Aber er sagt nichts. Und es ist merk- würdig, daß er nichts sagt …
Andreas will beten, er will unbedingt beten, erst alle die Gebete, die er immer gebetet hat, und noch ein paar eigene dazu, und dann will er aufzählen, anfangen aufzuzählen, die, für die er bitten muß, aber er denkt, daß es Irrsinn ist, alle aufzuzählen. Man müßte alle aufzählen, die ganze Welt. Zwei Milliarden müßte man aufzählen … vierzig Millionen, denkt er … nein, zwei Milliarden müßte man aufzählen. Man müßte einfach sagen: Alle. Aber das ist zu wenig, man muß schon anfangen aufzuzählen, die, für die er bitten muß. Erst die, die man gekränkt hat, an denen man etwas gutzumachen hat. Er fängt mit der Schule an, dann mit dem Arbeitsdienst, dann die Kaserne und der Krieg und die vielen, die ihm einfallen zwischendurch. Sein Onkel, den er auch gehaßt hat, weil der vom Militär geschwärmt hat, von der schönsten Zeit seines Lebens. Er
denkt an seine Eltern, die er nicht gekannt hat. Paul. Paul steht jetzt bald auf und liest die Messe. Es ist die dritte, die er liest, seitdem ich weg bin, vielleicht hat er begriffen, als ich geschrien habe: Ich werde sterben … bald. Vielleicht hat Paul begriffen und liest eine Messe für mich am Sonn- tag morgen, eine Stunde bevor oder nachdem ich gestor- ben sein werde. Hoffentlich denkt Paul an die anderen, an die Soldaten, die so sind wie der Blonde, und an die, die so sind wie Willi, und an die, die sagen: Praktisch, prak- tisch haben wir den Krieg schon gewonnen, und an die, die Tag und Nacht singen: Wildbretschütz und Heidema- rie, und: Es ist so schön, Soldat zu sein, und: Ja, die Sonne von Mexiko. Er denkt gar nicht an die Augen an diesem kalten, trostlosen Morgen unter dem dunklen traurigen ga- lizischen Himmel. Jetzt sind wir bestimmt in Galizien, so nahe an Lemberg, Lemberg ist doch die Hauptstadt von Galizien. Jetzt bin ich schon ziemlich mitten drin im Zen- trum des Netzes, wo ich gefangen werden soll. Es ist nur noch eine Provinz: Galizien, und ich bin in Galizien. In meinem ganzen Leben werde ich nichts anderes mehr se- hen als Galizien. Es ist schon sehr eingeengt, das Bald. Auf vierundzwanzig Stunden und auf ein paar Kilometer. Nicht mehr viele Kilometer bis Lemberg, vielleicht sech- zig, und über Lemberg hinaus höchstens noch sechzig. Auf hundertzwanzig Kilometer ist mein Leben schon in Galizien eingeengt, in Galizien … wie ein Messer auf un- sichtbaren Schlangenfüßen, ein Messer, das wandert, leise wandert, ein leise wanderndes Messer. Galizien. Wie wird es wohl vor sich gehen, denkt er. Ob ich erschossen werde oder erdolcht … oder zertreten … oder ob ich einfach von einem zerquetschten Eisenbahnwagen mitzerquetscht wer- de. Es gibt so unendlich viele Todesarten. Man kann auch
von einem Wachtmeister erschossen werden, weil man nicht so werden will, wie der Blonde geworden ist; man kann sterben, wie man will, und immer steht in dem Brief: Er ist für Großdeutschland gefallen. Ich muß unbedingt noch für die Geschützbedienung da unten in den Ssi- wasch-Sümpfen beten … unbedingt … unbedingt … Tak- Tak-Tak-Bums … unbedingt … Tak-Tak-Tak-Bums – un- bedingt Geschützbedienung … in den Ssiwasch-Sümpfen
… Tak-Tak-Tak-Bums …
Es ist furchtbar, daß er doch zuletzt wieder eingeschla- fen ist. Und sie sind in Lemberg. Da ist
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