Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
Vom Netzwerk:
Lands- knecht. Das war vielleicht das Schlimmste, und ich weiß nicht, ob Gott das verzeihen kann. Ich hab Witze über ihn gemacht, über sein Hitlerjungenaussehen, und er war ein Todeskandidat, ich habe es ihm am Gesicht angesehen, und er ist gefallen; beim ersten Angriff unten in den Karpaten ist er abgeknallt worden, und seine Leiche ist einen Abhang hinuntergerollt, ganz furchtbar hinuntergerollt, und im Wäl- zen hat sich die Leiche voll Dreck gewälzt, das war furcht- bar, und es sah wirklich fast lächerlich aus, wie die Leiche sich wälzte, immer schneller, immer schneller, immer schneller, bis sie unten aufgeprallt ist in der Talsohle …
    Und in Paris habe ich eine Hure beschimpft. Mitten in der Nacht, das war schlimm. Es war kalt, da hat sie sich an mich rangemacht … sie hat mich regelrecht angefallen, und ich habe an ihren Fingern und ihrer Nasenspitze gese- hen, daß sie erbärmlich gefroren hat, gefroren vor Hunger. Ich habe mich geekelt, als sie gesagt hat: Komm, und ich hab sie weggestoßen, dabei hat sie gefroren und ist häßlich gewesen und ganz allein in dieser großen, breiten Straße, und vielleicht wäre sie froh gewesen, wenn ich bei ihr ge- legen hätte in ihrem armseligen Bett und hätte sie bloß ein
    bißchen gewärmt. Und ich hab sie richtig von mir gesto- ßen in die Gosse hinein und hab ihr Bosheiten nachge- zischt. Wenn ich nur wissen dürfte, was aus ihr geworden ist in jener Nacht. Vielleicht ist sie in die Seine gegangen, weil sie so häßlich war, daß keiner angebissen hat in die- ser Nacht, und das Schreckliche ist, daß ich nicht so hart zu ihr gewesen wäre, wenn sie hübsch gewesen wäre … Wenn sie hübsch gewesen wäre, wäre mir ihr Beruf viel- leicht gar nicht so schrecklich vorgekommen und sie wäre nicht in die Gosse gestoßen worden und ich hätte mich vielleicht ganz gerne selbst bei ihr gewärmt und ganz was anderes noch. Weiß Gott, was geschehen wäre, wenn sie hübsch gewesen wäre. Das ist furchtbar, einen Menschen schlecht zu behandeln, weil er einem häßlich vorkommt. Es gibt keine häßlichen Menschen. Dieses arme Ding. Gott verzeih mir vierundzwanzig Stunden vor meinem Tode, daß ich diese arme, häßliche, frierende Hure von mir gestoßen habe, in der Nacht, in der breiten, leeren Straße von Paris, wo kein Freier mehr für sie aufzutreiben war als ich allein. Gott verzeih mir alles, es ist nichts un- geschehen zu machen, nichts ist ungeschehen zu machen, und in alle Ewigkeit hinein wird das jämmerliche Wim- mern dieses armen Mädchens in der Straße von Paris hän- gen und mich anklagen und die armen, hilflosen Hunde- augen des Leutnants Schreckmüller, dem die Schulter- stücke viel zu schwer auf den Kinderschultern lagen …
    Wenn ich nur weinen könnte. Über alles das kann ich nicht einmal weinen. Es ist mir schmerzlich und schwer und furchtbar, aber ich kann nicht darüber weinen. Alle können sie weinen, sogar der Blonde, nur ich kann nicht weinen. Gott schenke mir, daß ich weinen kann …
    Da muß noch vieles sein, was mir jetzt nicht einfällt.
    Das kann lange nicht alles sein. So manchen hab ich ver- achtet und gehaßt und innerlich beschimpft. Auch den, der gesagt hat: Praktisch, praktisch haben wir den Krieg schon gewonnen, auch den hab ich gehaßt, aber ich hab mich ge- zwungen, für ihn zu beten, weil er so dumm war. Ich muß noch für den beten, der eben gesagt hat: Die werden es schon schmeißen, und alle die, die begeistert den Wild- bretschütz gesungen haben.
    Die alle hab ich gehaßt, die eben vorbeigefahren sind und haben den Wildbretschütz gesungen … und Heidema- rie … und … Es ist so schön, Soldat zu sein … und … Und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt. Alle, alle habe ich gehaßt, die so wahnsinnig eng bei mir gelegen haben im Waggon und in der Kaserne. Ach, in der Kaserne …
    »Feierabend«, ruft draußen eine Stimme, »alles einstei- gen!« Der Blonde kommt rein und der von der anderen Seite, und der Zug pfeift und fährt ab. »Gott sei Dank«, sagt Willi. Aber es ist doch zu spät. Es ist halb vier, und sie haben noch mindestens zwei Stunden bis Lemberg, und um fünf Uhr fährt schon der Kurierzug von Warschau nach Bukarest, der Zivilzug.
    »Noch besser«, sagt Willi., »da haben wir einen ganzen Tag in Lemberg.« Er lacht wieder. Er möchte so gern noch mehr von Lemberg erzählen. Man hört es an seiner Stim- me, aber niemand fragt, und niemand fordert ihn auf zu erzählen. Sie sind müde, es

Weitere Kostenlose Bücher