Der Zug War Pünktlich
ein großer Bahn- hof, schwarzes Eisengerüst und dunkelweiße Schilder, und da steht es schwarz auf weiß zwischen den Bahnsteigen: Lemberg. Hier ist das Sprungbrett. Es ist kaum zu glau- ben, wie schnell man vom Rhein nach Lemberg kommen kann. Lemberg, steht da schwarz auf weiß, unwiderruflich: Lemberg. Hauptstadt von Galizien. Wieder sechzig Kilo- meter weniger. Das Netz ist jetzt schon ganz klein. Sech- zig Kilometer, vielleicht auch weniger, vielleicht nur zehn. Hinter Lemberg, zwischen Lemberg und Czernowitz, das kann ein Kilometer hinter Lemberg sein. Das ist wieder so dehnbar wie das Bald, das er doch eingeengt zu haben glaubte …
»Junge, du hast aber einen Schlaf«, sagt Willi, der sehr munter sein Gepäck zusammenklaubt, »du hast einen Schlaf, der ist toll. Zweimal sind wir noch stehengeblie- ben. Fast hättest du Posten stehen müssen. Ich hab dem Feldwebel gesagt, daß du krank bist, und er hat dich schla- fen lassen. Nun steh auf!« Der Wagen ist schon ganz leer, und der Blonde steht schon draußen mit seinem Luftwaf- fenrucksack und dem Koffer.
Es ist sehr seltsam, so über einen Bahnsteig im Haupt-
bahnhof von Lemberg zu gehen …
Es ist elf Uhr, fast Mittag, und Andreas spürt einen schrecklichen Hunger. Aber er denkt mit Widerwillen an die Kochwurst. Butter und Brot und etwas Warmes! Ich habe lange nichts Warmes mehr gegessen, ich möchte et- was Warmes essen. Seltsam, denkt er, während er Willi und dem Blonden folgt, mein erster Gedanke in Lemberg: Du müßtest etwas Warmes essen. Vierzehn oder fünfzehn Stunden vor deinem Tode müßtest du etwas Warmes es- sen. Er lacht, so daß die beiden sich umdrehen und ihn fragend ansehen, aber er weicht ihren Blicken aus und er- rötet. Da ist die Sperre, da steht ein Posten mit Stahlhelm wie an allen Bahnhöfen Europas, und der Posten sagt zu Andreas, weil er der letzte von den dreien ist: »Wartesaal links, auch für Mannschaftsdienstgrade.«
Willi wird fast ausfällig, als sie die Sperre hinter sich haben. Er bleibt mitten in der Bahnhofshalle stehen, zün- det sich eine Zigarette an und äfft laut nach: »Wartesaal, auch Mannschaftsdienstgrade … links. Das könnte denen so passen, daß wir in den Stall gehen, den sie für uns ein- gerichtet haben.« Sie blicken ihn erschreckt an, aber er lacht. »Nun laßt mich mal machen, Kinder! Lemberg, das ist nämlich mein Fall. Wartesaal für Mannschaftsdienst- grade! Hier gibt’s Kneipen, hier gibt’s Restaurants«, er schnalzt mit der Zunge, »das hat europäischen Rang«, er wiederholt mit ironischer Betonung, »europäischen Rang.«
Sein Gesicht sieht jetzt wieder ziemlich unrasiert aus, er scheint einen irrsinnigen Bartwuchs zu haben. Es ist das alte, sehr traurige und verzweifelte Gesicht.
Er geht stumm den beiden voran durch die Ausgangstür, überquert, ohne ein Wort zu sagen, einen großen Platz, der
von Menschen wimmelt, und dann sind sie sehr schnell in einer dunklen schmalen Quergasse, da steht ein Auto an der Ecke, ein sehr wackeliges Personenauto, und es ist wie ein Traum, daß Willi den Fahrer kennt. Er ruft »Stani«, und es ist wieder wie ein Traum, daß sich ein verschlafe- ner, schmutziger alter Pole aus dem Führerstand erhebt und grinsend Willi erkennt. Willi nennt einen polnischen Namen, und es geht sehr schnell, daß sie mit ihrem Ge- päck alle drei in der Taxe sitzen und durch Lemberg fah- ren. Da sind Straßen wie überall in der Welt in großen Städten. Breite, elegante Straßen, abfallende Straßen, trau- rige Straßen mit gelblichen Fassaden, die ausgestorben scheinen. Menschen, Menschen, und Stani fährt sehr schnell … es ist wie ein Traum: ganz Lemberg scheint Willi zu gehören. Sie fahren in eine sehr breite Allee hin- ein, eine Allee wie überall in der Welt und doch eine pol- nische Allee, und Stani hält. Er bekommt einen Geld- schein, fünfzig Mark sieht Andreas, und Stani hilft jetzt grinsend das Gepäck auf den Bürgersteig legen, alles sehr schnell, und es geht wiederum sehr schnell, daß sie einen verwilderten Vorgarten durchschreiten und in einen sehr langen und dumpfen Flur treten in einem Haus, dessen Fassade zu zerbröckeln scheint. Ein k. u. k.-Haus. Andreas erkennt das sofort, daß das ein ehemaliges k. u. k.-Haus ist, vielleicht hat hier ein hoher Offizier gewohnt, damals, als noch Walzer getanzt wurde, oder ein Oberregie- rungskommissär, was weiß er. Das ist ein altes österreichi- sches Haus, die stehen überall, auf dem ganzen Balkan, in Ungarn
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