Der Zug War Pünktlich
Lieder, die man einfach hineingesenkt hat, eingegraben, eingedrillt, um ihre Gedanken zu töten. Diese Lieder
schreien sie jetzt in die dunkle, finstere, traurige polnische Nacht hinaus, und es scheint Andreas, als müsse er fern, fern irgendwo ein Echo hören, hinter dem finsteren un- sichtbaren Horizont, ein spöttisches kleines und sehr scharfes Echo … Wildbretschütz … Wildbretschütz … Heidemarie. Viele Waggons müssen das sein, dann ist nichts mehr, und alle kommen von den Fenstern auf ihre Plätze zurück. Auch Willi und der Blonde.
»SS«, sagt Willi, »die werden bei Tscherkassy reinge- schmissen. Da ist wieder ein Kessel oder so was. Kessel- flicker!«
»Die werden es schon schmeißen«, sagt eine Stimme … Willi sitzt wieder neben Andreas und sagt, daß es zwei
Uhr sei. »Das ist Scheiße, da kriegen wir den Zug nicht mehr in Lemberg, wenn wir nicht gleich weiterfahren. Zwei Stunden sind’s schon noch. Da müssen wir Sonntag morgen fahren …«
»Aber wir werden ja gleich weiterfahren«, sagt der Blonde, der wieder am Fenster steht.
»Möglich«, sagt Willi, »aber wir haben dann keine Zeit mehr in Lemberg. Eine halbe Stunde ist Scheiße für Lem- berg. Lemberg!« Er lacht.
»Ich?« hören sie plötzlich den Blonden rufen.
»Ja, Sie!« schreit draußen eine Stimme. »Machen Sie sich fertig und treten Sie Ihren Posten an.« Der Blonde kommt ärgerlich brummend zurück, und draußen steht je- mand mit einem Stahlhelm auf dem Kopf auf dem Tritt- brett und steckt sein Gesicht rein ins Abteilfenster. Es ist ein schwerer, dicker Schädel, und sie sehen dunkle Augen und eine amtliche Stirn, denn der Blonde macht ein Streichholz an, um Koppel und Stahlhelm zu suchen.
»Ist hier ein Unteroffiziersgrad drin?« schreit die Stim-
me unter dem Stahlhelm. Es ist eine Stimme, die nur schreien kann. Niemand meldet sich. »Ob hier ein Unter- offiziersgrad drin ist?«
Niemand meldet sich. Willi stößt Andreas spöttisch mit dem Ellenbogen an.
»Zwingen Sie mich nicht, nachzusehen; wenn ich einen Unteroffizier finde, dem geht’s schlecht.«
Noch eine Sekunde lang meldet sich niemand, dabei hat Andreas gesehen, daß es von Unteroffizieren wimmelt. Plötzlich sagt ganz nah neben Andreas jemand: »Hier!«
»Sie haben wohl gepennt?« schreit die Stimme unter dem Stahlhelm.
»Jawohl«, sagt die Stimme, und Andreas erkennt jetzt den mit dem Krimschild.
Einige lachen.
»Wie heißen Sie?« schreit die Stimme unter dem Stahl- helm.
»Feldwebel Schneider.«
»Sie sind jetzt Waggonältester für die Zeit, die wir hier stehen, verstehen Sie?«
»Jawohl!«
»Gut, dieser Mann hier …«, er deutet auf den Blonden,
»wie heißen Sie?«
»Gefreiter Siebental.«
»Also der Gefreite Siebental macht jetzt Wache vor dem Waggon bis vier Uhr. Sollten wir dann noch hier stehen, lassen Sie ihn ablösen. Außerdem stellen Sie einen Posten vor die andere Waggonseite und lassen den gegebenenfalls auch ablösen. Partisanengefahr.«
»Jawohl!«
Das Gesicht unter dem Stahlhelm verschwindet und murmelt vor sich hin: »Feldwebel Schneider.«
Andreas zittert. Nur nicht Posten stehen, denkt er. Ich sitze ganz nah neben ihm, und er wird mich beim Ärmel packen und mich auf Posten stecken. Feldwebel Schneider hat seine Taschenlampe angeknipst und leuchtet vorn in den Flur hinein. Er leuchtet erst auf die Kragen der Lie- genden, die so tun, als ob sie schliefen, dann zieht er ir- gendeinen hoch, am Kragen, und sagt lachend: »Komm, stell dich mit der Knarre draußen hin, ich kann nichts da- für.«
Der Aufgeschnappte macht sich fluchend fertig. Wenn sie nur nicht rauskriegen, daß ich kein Gewehr habe, über- haupt keine Waffe, daß mein Gewehr in Pauls Garderobe hinter dem Kleppermantel steht. Was soll Paul überhaupt mit dem Gewehr machen? Ein Kaplan mit einem Gewehr, das ist ein Fressen für die Gestapo. Er kann’s ja nicht mel- den, weil er dann meinen Namen nennen muß und weil er sich denkt, daß sie dann vielleicht an meine Truppe schreiben. Es ist furchtbar, daß ich Paul auch noch das Gewehr zurücklassen mußte …
»Mensch, es dauert ja nur solange, bis wir weiterfah- ren«, sagt der Feldwebel zu dem fluchenden Soldaten, der sich zur Tür tastet und sie aufreißt. Es ist merkwürdig, daß der Zug nicht weiterfährt, es vergeht eine Viertelstunde, sie können vor Unruhe nicht schlafen. Vielleicht sind wirklich Partisanen in der Nähe, und es ist scheußlich, in einem Zug überfallen zu werden. Vielleicht ist es
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