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Der Zug War Pünktlich

Der Zug War Pünktlich

Titel: Der Zug War Pünktlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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ge- schenkt, daß das Leben schön war … noch zwölf Stunden oder elf Stunden …
    Ganz zuletzt denkt er noch einmal an die Juden von Czernowitz, dann fallen ihm die Juden von Lemberg ein, von Stanislau und von Kolomea, und das Geschütz da un- ten in den Ssiwasch-Sümpfen. Und der, der gesagt hat: Das sind ja gerade die eminenten Vorzüge der 3,7 Pak … und die arme, häßliche, frierende Hure von Paris, die er von sich gestoßen hat in der Nacht …
    »Trink doch, Kumpel«, sagt Willi rauh, und Andreas hebt den Kopf und trinkt. Es ist noch Wein da, die Flasche steht im Kühler, er trinkt das Glas aus und läßt sich ein- schenken.
    Das ist alles in Lemberg, was ich hier tue, denkt er, in ei- nem k. u. k.-Haus, in einem alten, halbzerfallenen k. u. k.- Haus, in einem großen Saal in diesem Haus, wo sie Feste gefeiert haben, große, schöne Feste mit Walzertänzen, noch vor – er rechnet leise nach – noch vor mindestens achtund- zwanzig Jahren, nein, neunundzwanzig Jahren, vor neun- undzwanzig Jahren war noch kein Krieg. Vor neunund- zwanzig Jahren, da war hier noch Österreich … dann war hier Polen … dann war Rußland … und jetzt, jetzt ist alles Großdeutschland. Da haben sie Feste gefeiert damals … Walzer getanzt, wunderbare Walzer, und haben sich zuge- lächelt, getanzt … und draußen, in dem großen Garten, der bestimmt hinter dem Haus ist, in diesem großen Garten ha- ben sie sich geküßt, die Leutnants mit den Mädchen … und vielleicht auch die Majore mit den Frauen, und der Haus- herr, der war sicher Oberst oder General, und er hat getan, als sähe er nichts … vielleicht war er auch k. u. k.-
    Oberregierungskommissär oder sowas … ja …
    »Trink doch, Kumpel!« Ja, er trinkt gerne noch was … die Zeit verrinnt, denkt er, ich möchte wissen, wie spät es ist. Es war elf, Viertel nach elf, als wir den Bahnhof ver- ließen, es ist jetzt sicher zwei oder drei … noch zwölf Stunden, nein, noch mehr. Der Zug fährt ja erst um fünf, und dann noch bis … bald. Das Bald ist jetzt wieder so verschwommen. Sechzig Kilometer hinter Lemberg wer- den es gar nicht mehr sein. Sechzig Kilometer, dafür braucht der Zug einundeinhalb Stunden, das wäre halb sieben, da ist es doch hell. Ganz plötzlich, während er das Glas zum Munde führt, weiß er, daß es nicht mehr hell sein wird. Vierzig Kilometer … eine Stunde oder Drei- viertelstunde, bis es vielleicht anfängt, leise zu dämmern. Nein, es wird noch dunkel sein, kein Dämmer! Da ist es! Da ist es ganz genau! Viertel vor sechs, und morgen ist schon Sonntag, und morgen fängt Pauls andere Woche an, und in dieser ganzen Woche hat Paul die Sechsuhrmesse. Ich werde sterben, wenn Paul zum Altar tritt. Das ist ganz gewiß, wenn er das Staffelgebet ohne Meßdiener zu beten beginnt. Er hat mir gesagt, daß die Meßdiener nicht mehr so funktionieren. Wenn Paul das Staffelgebet spricht, zwi- schen Lemberg und … er muß nachsehen, welcher Ort vierzig Kilometer hinter Lemberg ist. Er muß die Karte haben. Er blickt auf und sieht, daß der Blonde in seinem weichen Sessel schlummert. Der Blonde ist müde, der Blonde hat Posten gestanden. Willi ist wach und lächelt glücklich, Willi ist betrunken, und die Karte hat der Blon- de in der Tasche. Aber es ist ja noch Zeit. Noch mehr als zwölf Stunden, noch fünfzehn Stunden … in diesen fünf- zehn Stunden muß noch viel erledigt werden. Beten, be- ten, nicht mehr schlafen … auf keinen Fall mehr schlafen,
    und es ist gut, daß ich es jetzt so genau weiß. Auch Willi weiß, daß er sterben wird, und auch der Blonde will ster- ben, ihr Leben ist aus, es ist ziemlich voll, das Stundenglas ist fast bis zum Rand gefüllt, und der Tod muß nur noch ein wenig, ein ganz klein wenig dazuschütten. »So, Kin- der«, sagt Willi, »tut mir leid, wir müssen aufbrechen. War schön hier, nicht wahr?« Er stößt den Blonden an, und der Blonde erwacht. Er träumt immer noch, es ist nichts als Traum in seinem Gesicht, und seine Augen se- hen nicht mehr so scheußlich schleimig aus, sie haben et- was Kindliches, und vielleicht kommt das daher, daß er richtig geträumt hat, sich richtig gefreut hat. Die Freude wäscht vieles ab, so wie das Leid vieles abwäscht. »Jetzt«, sagt Willi, »jetzt müssen wir nämlich in das Stempelhaus, aber ich verrate euch noch nichts.« Er ist ein wenig ge- kränkt, daß keiner ihn fragt, und er ruft Georg herbei, und er zahlt etwas über vierhundert Mark. Das Trinkgeld ist fürstlich.

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